Aava
09.08.2013 - 21:49 Uhr
36
Top Rezension
7.5
Flakon
5
Sillage
5
Haltbarkeit
9
Duft

How to make a mixtape

Ein Mixtape mit den Lieblingssongs zusammenstellen, ins Auto steigen, die Fenster runterkurbeln, die Musik aufdrehen und mitsingend über die Landstraßen cruisen. Dabei in die Sonne blinzeln, den Ellenbogen aus dem Fenster hängen lassen und einfach weiter fahren – bis Patagonien oder sonst wohin. Den Job kündigen und eine Eisdiele in Istanbul oder eine Espressobar in Düsseldorf eröffnen. Zu viele Schuhe oder Parfums kaufen und zu oft in Urlaub fahren. Die Freizeit maximieren und allen sagen: „Mir egal, ich mach das jetzt einfach!“. Laut lachen und da sein. Einfach das Leben freuen!

Das Nasengold, wie ich Raute S, den ersten Duft des in Hamburg ansässigen und noch recht jungen Labels „Nasengold“ um Christian Plesch gerne nenne, macht einfach Spaß. Raute S macht mir einfach Spaß. So fröhlich und beschwingt wie der Duft selbst ist, lässt er mich werden. Ganz einfach, ganz automatisch und ganz unprätentiös passiert das. Ich schlage Salti durch den Tag und die Luft, springe über Kontinente in den Himmel und wieder zurück. Das geht mit dem Nasengold nämlich und so ist auch der Auftakt von Raute S spritzig, voller Sommer und Raum zum Atmen. Frei und unangepasst. Hier vibriert die Luft und knallen die Sektkorken. Ab jetzt wird gefeiert!

Tatsächlich riecht das Nasengold sofort von Beginn an deutlich nach der Note, um die die komplette Komposition aufgebaut zu sein scheint: Lie de Vin. Lie de Vin ist im Prinzip eine holzfassgereifte Weinhefe, wie sie z.B. bei der Herstellung von Cognac gewonnen wird und in kleinster Dosierung wohl auch schon seit langer Zeit Verwendung in der Parfumherstellung findet. Raute S beinhaltet davon aber offensichtlich nicht nur ein kleines Quentchen, sondern diese hefig-fruchtige Note zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Komposition. Sie ist das Zentrum, der Grund und der Boden des Duftes. Am Anfang spritzig und funkelnd, verbreitet sie in Verbindung mit einer zitrischen Komponente, der ätherischen Würze aus Pfeffer und Ingwer sowie der fruchtig herben Süße der Grapefruit sofort gute Laune. Ich habe selten einen Duft erlebt, der direkt in den ersten Sekunden nach dem Aufsprühen bereits eine derartige Präsenz besitzt und solch eine freundlich überschwängliche Atmosphäre verbreitet. Eine Haltung anfeuert, die zu Späßen aufgelegt ist, ohne dabei platt zu wirken. Fast vibriert die Kopfnote und sprudelt wie die kleinen Blubberbläschen im Prosecco. Hier finde ich die Weinhefe als Duftnote am präsentesten im gesamten Duftverlauf. Unter die prickelnd-vibrierende Oberfläche der Kopfnote legt sie sich als ein unterschwellig gärender Grundton, der mich in seiner gärenden Fruchtigkeit spontan an „Pulp“ von Byredo, nur in luftig und locker erinnert. Dadurch wird die hell-spritzige Lebensfreude der ersten Sekunden mit einer leichten Schwere unterlegt, die der Kopfnote Haftung gibt, so dass sie nie ins Hysterische abgleitet.

Im weiteren Verlauf wird die Grapefruit in Zusammenspiel mit einem eher hintergründig auftretenden, leicht seifig und sehr frisch anmutenden Rosenakkord präsenter, der Duft insgesamt etwas ruhiger und weicher. Überhaupt empfinde ich Raute S als eher unkantig aber dennoch als eigen und außergewöhnlich. Das hat Charakter und ist eigensinnig, geht aber nie auf die Nerven und beißt nicht. Raute S schlägt keine Haken und nimmt keine krummen Kurven. Der gärende Grundton franst nicht aus und wird nicht breit. Er gibt einen Rahmen vor, begrenzt zwar großzügig aber doch klar umrissen. Geschuldet ist die Kontur des Duftes sicher auch, dem wie ich finde, genialen Einsatz des Iso E Super in der Basis. Sehr weich und fluffig, zurückgezogen und hautnah wird der Duft gen Ende hin und bleibt dabei aber doch auch dicht und klar umgrenzt. Das Iso E Super, für mich eine als Einzelnote klare, feingeistige und fast schon übertrieben intellektuelle Note, die eher als warm dunkel-holzige Aura, denn als eindeutiger Parfumeffekt über die Haut schwebt und dabei stetig abklingt und wieder aufglimmt. In Raute S ist das Iso E Super fein eingebunden, sticht nicht explizit heraus und hindert den Duft aber dennoch daran, ins Beliebige abzurutschen. Das Molekül verleiht dem Parfum etwas zeitgemäß Modernes. Nicht unbedingt etwas Jugendliches aber doch ein bißchen Fashion, ein wenig Haut-Couture und ein Fitzelchen Punk. Mal flacht dieser Eindruck ab, ein anderes Mal wieder auf. So ist für mich der einzig Wermutstropfen des Duftes auch die eher zurückgenommene Sillage und nur durchschnittliche Haltbarkeit. Bei mir hält Raute S ca. 5-7 Stunden durch, wird aber in den letzten Stunden so hautnah, dass ich selbst Schwierigkeiten habe, den Duft noch wahrzunehmen. Aber mal zieht er sich wie gesagt zurück, mal lebt er auch wieder auf. Das Nasengold macht, was es will.

Und so versteht sich auch das Label laut der eigenen Homepage: Unangepasst, spontan und voller Lebensfreude. Ein Statement, das ich z.B. im Gegensatz zum künstlich zusammengerockten Marketinggerede um „Dreckig bleiben“ als absolut authentisch und glaubwürdig empfinde. Das nehme ich dem Herrn Plesch ab und das vermittelt auch Raute S. Und an genau diesem Punkt erinnert mich Raute S auch an einen meiner, wenn nicht gar den Lieblingsduft überhaupt: an Bosque von Humiecki & Graef. Bekannt ist das Dufthaus für sein Konzept, dass sich jedes ihrer Parfums einer bestimmten menschlichen Emotion widmet. Und bei Bosque ist es die Zufriedenheit. Bosque riecht für mich nach dem, was war und dem, was sein wird. Nach angekommen und ausgeglichen sein, nach Einklang und Zufriedenheit. Und auch Bosque stellt das her über das Zusammenspiel fruchtig-würziger sowie ausgleichend warmer und doch auch erdend herber Noten. Während Bosque für mich aber eine warme Zufriedenheit ausstrahlt und in mir auslöst, ist es bei Raute S eher die ausgelassene Freude am Leben. Ähnliche Gefühle, das eine Mal etwas ruhiger und das andere Mal etwas dynamischer, aber dennoch ähnlich. Und beiden Parfums ist zudem sowohl das Ansinnen, genau diese Gefühle vermitteln zu wollen als auch die Tatsache gemein, das auch tatsächlich zu schaffen. Das eine ist das Konzept hinter dem Duft und das andere ist es, dieses Konzept auch riech- und erlebbar zu machen. Das ist hier ganz wunderbar gelungen.

Und morgen kaufe ich mir als erstes einen Flakon vom Nasengold, mache mir danach ein Mixtape und fahre los...
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