Der Name „Krasnaja Moskwa“ (in un-anglisierter Schreibweise) weckt bei mir sofort den Gedanken an „Krasnaja Ploschtschad“, den „Roten Platz“, gelegen im Herzen Moskaus, zu Füßen des Kremls. Von der Wort-Herkunft müsste er auf Deutsch „Schöner Platz“ heißen, das Wort „krasnaja“ hatte ursprünglich beiderlei Bedeutung: „rot“ und „schön“ - darauf verwies bereits Taurus1967 in seinem feinen Kommentar. Und mit den Sowjets hat der Begriff schon mal gar nichts zu tun. Als ich 1990/91 dort war, war die Erinnerung an Mathias Rust noch präsent, der 1987 mit seiner Cessna in unmittelbarer Nähe gelandet war; und angesichts des großen Namens waren die Erwartungen ohnehin entsprechend.
Der Platz verblüfft zunächst durch seine schiere Größe. Wir, eine Gruppe von 24 mehr oder weniger jugendlichen Chor-Sängern, waren soeben unweit entfernt vom Bus ausgespuckt worden und standen etwas verloren herum; gegenüber die lange, abweisende Kremlmauer (das Lenin-Mausoleum geht davor ein bisschen unter) und der Blick wird unweigerlich angezogen vom Staatlichen Historischen Museum an der Nord-West-Seite, insbesondere freilich von der pompösen Basilius-Kathedrale im Süd-Osten. Selbst an einem tristen, grauen Wintertag ein erhebender Anblick. Sie ist nämlich wegen ihrer der farbenfrohen Gestaltung keineswegs derart erschlagend, wie Sakralbauten anderswo gerne wirken wollen. Ihre augenscheinliche Asymmetrie täuscht übrigens, sie wird meist schräg fotografiert.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Name „Krasnaja Moskwa“ zufällig gewählt ist. Es liegt doch näher, eine Assoziation zu diesem zentralen russischen Geschichts- und Kulturgut zu vermuten. Mit „Krasnaja Moskwa“ mag daher ebenso gut „Schönes Moskau“ gemeint sein. Verschiedentlich wurden zum (offenbar prominenteren) Geschwister-Duft Assoziationen wie Adel, Hautevolee genannt. Ich sehe das anders. „Schönes Moskau“ kommt mir melancholischer vor; pathetisch formuliert: Der Duft lässt es zu, als eine Allegorie auf die seufzende, gequälte russische Seele, auf „Mütterchen Russland“, die Geschundene, gesehen zu werden.
Ein kraftvoller Auftakt, dem ein langer Verlauf folgt, ließ mich sicherheitshalber bei Angelliese, der Spenderin meines Pröbchens (vielen Dank!) nachfragen, ob dies wirklich das EdC sei. Meine Herren – oder besser: Damen – wie mögen erst die stärkeren Konzentrationen daherkommen? Denn Krasnaja Moskwa ist sogar als EdC außerordentlich kräftig und präsent und Bitterkeit durchzieht den fast gesamten Verlauf.
Der Schlag ins Gesicht zum Auftakt – wie der eisige Moskauer Winterwind beim Verlassen des Flugzeugs – ist aber innerhalb von einer Viertelstunde verziehen. Koriander nehme ich nun wahr, warmen dazu, so wie sich die kälte-genadelte Haut im geschlossenen Raum alsbald hitzig anzufühlen beginnt. Die Hesperidien haben zu Beginn lediglich eine kleine Nebenrolle, nur ein Hauch von Frucht schimmert durch und nah an bloßer Einbildung bewegt sich eine Spur der bergamotte-typischen Pelzigkeit. Im Laufe der ersten Stunde schält sich dann schließlich eine opulent-elegante Neroli-Note frei, von Iris-Bitterkeit vor jeder Schwülstigkeit bewahrt.
Nach zwei Stunden erreichen wir in dritter Schicht den Kern des Duftes: Eine herb-voluminöse Iris als Königin eines engmaschig verwobenen floralen Buketts. Welch‘ ein Auftritt! Gewiss nichts für den Alltag. Und durchaus gleichermaßen für Damen denkbar – welche mit Format, versteht sich. Der Duft verbleibt locker sechs Stunden auf diesem Niveau.
Zunehmend sind neben dem Iris-Konzentrat weitere Stink-Verwandte wahrscheinlich. „Spicken“ beim Damen-Duft bringt den Gedanken an Nelke ins Spiel. Vielleicht. Ich tippe auf Narzisse oder so, womöglich mit einer Prise Moos dabei. Und wenn am Schluss, ab der siebenten, achten Stunde, allmählich eine sacht cremige Note der floralen Bitterkeit ein wenig die Spitze bricht, wird es dennoch nicht versöhnlich-schmeichlerisch, sondern das Gerüst, das Herz des Duftes bleibt erhalten. Vanille und Tonka dürften für die Milderung zuständig sein, ohne für mich allerdings persönlich erkennbar zu werden. Sehr gut gemacht.
Der „klassische“ Russe kann in seiner Melancholie (und im Wodka) versinken, aber ein Teil von ihm, so scheint es mir, bleibt auch im Leiden immer Betrachter seiner selbst, immer passiv, als ginge ihn das alles bloß am Rande an. Schlimmer: Wie alle nur lange genug Gequälten, ist er sogar bereit, seine Peiniger - und seine Peinigung! - noch zu bejubeln. Wer je den Tumult mit der darauf folgenden Klage des Gottesnarren am Ende von Mussorgskijs „Boris Godunow“ (in der Fassung von 1872; https://www.youtube.com/watch?v=VPaapnDNqqU) gehört hat, weiß, was ich meine. Niemand vermochte das trefflicher in Töne zu kleiden als Mussorgskij in seinem „Boris“ und in der „Chowanschtschina“. Man verzeihe mir meine vielleicht antiquierte Sicht der Dinge, meine Russland-Erlebnisse sind schließlich ein Vierteljahrhundert alt. Indes: Was es da jetzt zu erfahren gibt, ist zum Heulen. Ein – im Rückblick - kurzes Zeitfenster der Glasnost-und-Pjerestroika-Hoffnung war das damals.