21.04.2020 - 10:28 Uhr
FvSpee
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FvSpee
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66
Colonia statt Corona. No. 2: Ristretto.
Was gibt es für einen besseren Beleg für meine in No. 1 geäußerte These, dass Seuchenzeiten sich für Kölnischwässer eignen, als die Tatsache, dass dies der dritte 4711-Kommentar in einer Woche und fünfte in zwei Monaten ist? Davor war sechs Monate Ruhe. Das Zeug hat definitiv Konjunktur, die Zeiten inspirieren zum Colognieren (manchmal vielleicht auch mit dem Umweg übers Transpirieren).
Wenn das "Classique" von Alpa eine weichgeschliffene Bergamotte ist, dann ist 4711 eine Voll-auf-die-Fresse-Bergamotte, mit reichlich und reinlich spürbarer Zitrone. 4711 hat eine kompromisslose zitrische Härte und Schärfe, die fast metallisch schneidend ist. In diesem Anfang liegt der unverwechselbare Sound von 4711, den kein anderer Duft der Welt so hat.
Damit ist dieser Duft ein echter Frische-Shot. Wenn er ein Kaffee wäre, dann wäre es ein Espresso Ristretto Doppio. Aus 100% Robusta-Bohnen. Mit maximalem Röstgrad. Kochend heiß. Damit ist 4711 auch ein echtes Anti-Parfüm. Es hat nichts Schwelgerisches, Weiches, nicht von "ich mache mich schön und lasse es mir gutgehen".
Daher war 4711 auch in den Zeiten und bei den Zielgruppen immer möglich, in denen ein Parfüm nicht ging. Parfüm? Das ist doch für Frauen, ich bin ein Mann. Das ist für Franzosen, ich bin Deutscher. Das ist für junge Frauen, ich bin schon vierzig. Das ist etwas für glückliche Menschen, ich bin Witwe. Das ist doch höchstens für den Sonnabend, beim lustig sein. Aber heute ist Werktag und ich arbeite. Oder Sonntag und ich bin in der Kirche. Ja, da geht Parfüm nicht. Aber 4711, das ist etwas anderes, das geht natürlich immer. Das ist doch was Reelles. Ein Medizin. Ein Werkzeug! Wie Odol bei Mundgeruch. Wie Franzbranntwein bei Muskelkater. Wie Klosterfrau Melissengeist bei Katarrh.
Das ist auch alles wahr, und wegen dieser Härte und fast schon ungemütlichen Schnelligkeit dieses Duftes ist er auch heute noch passend für Situationen, in denen die Umwelt bei einem "echten" Parfüm vielleicht fragen würde: Hat der/die sie noch alle? JETZT nichts besseres zu tun zu haben, als ein Parfüm aufzulegen??? 4711 kann sich auch der Feuerwehrmann während eines Großeinsatzes am brennendes Haus auftupfen. Oder die Corona-Ärztin in einer kurzen Pause von der Intensivstation. Und genau dann passt 4711 vielleicht auch am Besten, denn es wirkt sofort, es stimuliert und weckt auf.
Aber ein ganz, ganz kleines bisschen war dieses "4711 ist doch kein Parfüm!" auch immer eine listige Selbsttäuschung und Camouflage vor der Umwelt. 4711 ist eben kein reines Zitronenwasser, mit dem man auch den Kühlschrank auswischen könnte. Die Kräuter und der Lavendel im Herz (soweit man hier überhaupt einen klassischen Verlauf postulieren will) geben eine doch irgendwie edle Eigenart und Stabilität, und ja, ja, in der Basis, die nach 15 Minuten beginnt, ist etwas Zartes, Feines, Weiches, kaum spürbar, aber es ist da. Keine Vanille, kein Jasmin, aber doch ein zart blütiges Neroli. Und damit ist es doch ein bisschen Parfüm.
Ich mag 4711 sehr. Und auch wenn ich weder dem Duft noch dem Flakon Höchstnoten gebe, hoffe ich, dass beide in genau der Form, ohne Veränderungen, noch lange existieren werden!
Für den ikonischen Namen gibt es natürlich 10 Punkte.
Das war der Duftkommentar, und nun kommen noch ein paar Nachgedanken (coronafrei, aber omahaltig):
4711 wird ständig als "Omaduft" wahrgenommen. Und, nicht identisch, aber damit zusammenhängend, er wird mit "demütigenden" Szenen verbunden, in denen wir als kleine Kinder mit Taschentüchern, die mit 4711 getränkt waren, den Kakaomund oder das blutige Knie abgewischt bekommen haben, was wir doof fanden. Warum betüttelt uns die Oma so, wir sind doch groß und stark.
Natürlich verurteile ich niemanden, der so empfindet und der 4711 deshalb kategorisch ablehnt. Trotzdem, ich meine, man sollte eine solche Ablehnung auch mal reflektieren. Ich teile sie jedenfalls für mich persönlich nicht.
Klar ist 4711 für uns Parfüm-Nutzer "in den besten Jahren" (heute Lebensalter 40 bis 60) schon irgendwie ein Oma-Duft. Denn die Generation unserer Großmütter hat sehr viel 4711 benutzt. In deren Jugend war Hitler und Krieg, und als der vorbei war, waren sie oft Witwen, Vergewaltigungsopfer, Trümmerfrauen. Und dann war der Wiederaufbau einer heilen Welt mit Heimatfilmen angesagt. Das war nicht die Zeit von Chanel No 5, das war die Zeit von 4711. Und dann waren sie alt und sind bei 4711 geblieben. Und, ist daran etwas verkehrt? Muss man 4711 deshalb ablehnen? Ok, es gab natürlich auch richtig böse Omas. Wer so eine hatte, der will dann vielleicht wirklich nicht via 4711 an sie erinnert werden. Meine Omas hatten ihre Abgründe und ihre merkwürdigen Seiten, aber insgesamt waren sie nicht verkehrt. Und zu mir sowieso gut. Und dass sie 4711-Omas waren, und keine Mitsouko-Omas, das hat Gründe, auf die man vielleicht oft eher mit Mitgefühl als mit Widerwillen schauen kann.
Und was das andere angeht: Ich finde, wenn die Ehefrau oder der Ehemann einem ungefragt den Mund abwischt ohne vorher ausdrücklich um Erlaubnis zu fragen, dann ist das, solange man noch nicht senil ist jedenfalls, unangemessenes Betütteln. Für Eltern und Großeltern gehört(e?) es zur Job-Beschreibung. Aus deren Sicht ist (war?) es ein Ausdruck von Liebe und davon, das Kind nicht verwahrlosen zu lassen, es nicht mit versabbertem Mund durch die Gegend rennen zu lassen. Zur Job-Beschreibung des Kindes gehört es, das doof zu finden. Und zur Job-Beschreibung des erwachsen gewordenen Kindes, reifer geworden zu sein und die Abwischwut der Eltern und Omas in milderem, vielleicht sogar jetzt zärtlichem Licht zu sehen.
Und darauf einen Klosterfrau Melissengeist!
Wenn das "Classique" von Alpa eine weichgeschliffene Bergamotte ist, dann ist 4711 eine Voll-auf-die-Fresse-Bergamotte, mit reichlich und reinlich spürbarer Zitrone. 4711 hat eine kompromisslose zitrische Härte und Schärfe, die fast metallisch schneidend ist. In diesem Anfang liegt der unverwechselbare Sound von 4711, den kein anderer Duft der Welt so hat.
Damit ist dieser Duft ein echter Frische-Shot. Wenn er ein Kaffee wäre, dann wäre es ein Espresso Ristretto Doppio. Aus 100% Robusta-Bohnen. Mit maximalem Röstgrad. Kochend heiß. Damit ist 4711 auch ein echtes Anti-Parfüm. Es hat nichts Schwelgerisches, Weiches, nicht von "ich mache mich schön und lasse es mir gutgehen".
Daher war 4711 auch in den Zeiten und bei den Zielgruppen immer möglich, in denen ein Parfüm nicht ging. Parfüm? Das ist doch für Frauen, ich bin ein Mann. Das ist für Franzosen, ich bin Deutscher. Das ist für junge Frauen, ich bin schon vierzig. Das ist etwas für glückliche Menschen, ich bin Witwe. Das ist doch höchstens für den Sonnabend, beim lustig sein. Aber heute ist Werktag und ich arbeite. Oder Sonntag und ich bin in der Kirche. Ja, da geht Parfüm nicht. Aber 4711, das ist etwas anderes, das geht natürlich immer. Das ist doch was Reelles. Ein Medizin. Ein Werkzeug! Wie Odol bei Mundgeruch. Wie Franzbranntwein bei Muskelkater. Wie Klosterfrau Melissengeist bei Katarrh.
Das ist auch alles wahr, und wegen dieser Härte und fast schon ungemütlichen Schnelligkeit dieses Duftes ist er auch heute noch passend für Situationen, in denen die Umwelt bei einem "echten" Parfüm vielleicht fragen würde: Hat der/die sie noch alle? JETZT nichts besseres zu tun zu haben, als ein Parfüm aufzulegen??? 4711 kann sich auch der Feuerwehrmann während eines Großeinsatzes am brennendes Haus auftupfen. Oder die Corona-Ärztin in einer kurzen Pause von der Intensivstation. Und genau dann passt 4711 vielleicht auch am Besten, denn es wirkt sofort, es stimuliert und weckt auf.
Aber ein ganz, ganz kleines bisschen war dieses "4711 ist doch kein Parfüm!" auch immer eine listige Selbsttäuschung und Camouflage vor der Umwelt. 4711 ist eben kein reines Zitronenwasser, mit dem man auch den Kühlschrank auswischen könnte. Die Kräuter und der Lavendel im Herz (soweit man hier überhaupt einen klassischen Verlauf postulieren will) geben eine doch irgendwie edle Eigenart und Stabilität, und ja, ja, in der Basis, die nach 15 Minuten beginnt, ist etwas Zartes, Feines, Weiches, kaum spürbar, aber es ist da. Keine Vanille, kein Jasmin, aber doch ein zart blütiges Neroli. Und damit ist es doch ein bisschen Parfüm.
Ich mag 4711 sehr. Und auch wenn ich weder dem Duft noch dem Flakon Höchstnoten gebe, hoffe ich, dass beide in genau der Form, ohne Veränderungen, noch lange existieren werden!
Für den ikonischen Namen gibt es natürlich 10 Punkte.
Das war der Duftkommentar, und nun kommen noch ein paar Nachgedanken (coronafrei, aber omahaltig):
4711 wird ständig als "Omaduft" wahrgenommen. Und, nicht identisch, aber damit zusammenhängend, er wird mit "demütigenden" Szenen verbunden, in denen wir als kleine Kinder mit Taschentüchern, die mit 4711 getränkt waren, den Kakaomund oder das blutige Knie abgewischt bekommen haben, was wir doof fanden. Warum betüttelt uns die Oma so, wir sind doch groß und stark.
Natürlich verurteile ich niemanden, der so empfindet und der 4711 deshalb kategorisch ablehnt. Trotzdem, ich meine, man sollte eine solche Ablehnung auch mal reflektieren. Ich teile sie jedenfalls für mich persönlich nicht.
Klar ist 4711 für uns Parfüm-Nutzer "in den besten Jahren" (heute Lebensalter 40 bis 60) schon irgendwie ein Oma-Duft. Denn die Generation unserer Großmütter hat sehr viel 4711 benutzt. In deren Jugend war Hitler und Krieg, und als der vorbei war, waren sie oft Witwen, Vergewaltigungsopfer, Trümmerfrauen. Und dann war der Wiederaufbau einer heilen Welt mit Heimatfilmen angesagt. Das war nicht die Zeit von Chanel No 5, das war die Zeit von 4711. Und dann waren sie alt und sind bei 4711 geblieben. Und, ist daran etwas verkehrt? Muss man 4711 deshalb ablehnen? Ok, es gab natürlich auch richtig böse Omas. Wer so eine hatte, der will dann vielleicht wirklich nicht via 4711 an sie erinnert werden. Meine Omas hatten ihre Abgründe und ihre merkwürdigen Seiten, aber insgesamt waren sie nicht verkehrt. Und zu mir sowieso gut. Und dass sie 4711-Omas waren, und keine Mitsouko-Omas, das hat Gründe, auf die man vielleicht oft eher mit Mitgefühl als mit Widerwillen schauen kann.
Und was das andere angeht: Ich finde, wenn die Ehefrau oder der Ehemann einem ungefragt den Mund abwischt ohne vorher ausdrücklich um Erlaubnis zu fragen, dann ist das, solange man noch nicht senil ist jedenfalls, unangemessenes Betütteln. Für Eltern und Großeltern gehört(e?) es zur Job-Beschreibung. Aus deren Sicht ist (war?) es ein Ausdruck von Liebe und davon, das Kind nicht verwahrlosen zu lassen, es nicht mit versabbertem Mund durch die Gegend rennen zu lassen. Zur Job-Beschreibung des Kindes gehört es, das doof zu finden. Und zur Job-Beschreibung des erwachsen gewordenen Kindes, reifer geworden zu sein und die Abwischwut der Eltern und Omas in milderem, vielleicht sogar jetzt zärtlichem Licht zu sehen.
Und darauf einen Klosterfrau Melissengeist!
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