Cravache (2023) von Robert Piguet

Cravache 2023

Version von 2023
Profumo
24.10.2023 - 09:32 Uhr
43
Top Rezension
8.5Duft 8Haltbarkeit

'Cravache' zum Dritten

‚Cravache’, zu Deutsch: Reitgerte, kam 1963 als erster Herrenduft
des Hauses Piguet auf den Markt. Zwar blinkte der alte Cellier-Klassiker
‚Bandit’ Jahre zuvor schon Richtung Unisex, bog aber letztlich nicht komplett auf dieses damals noch recht unbeschriebene Terrain ein. ‚Cravache’ aber bediente nun den vergleichsweise schmalen Duftkanon, der die tradierte maskuline Duftsprache beschrieb: frisch-herbe Agrumen, krautig-aromatischer
Lavendel, derbes Leder, mit ordentlich Eichenmoos fixiert, von einem dezenten,
unsüßen Blütenhauch durchlüftet.

Das klingt jetzt krachender und krawalliger als er eigentlich war – immerhin wollte er eine duftende Lederpeitsche sein – aber ‚Cravache’ blieb im Habitus doch ein echter Gentleman: zurückhaltend,
unaufdringlich, der wahlweise mit ‚Fracas’, ‚Bandit’ oder ‚Baghari’ bedufteten Dame jederzeit und überall den Vortritt lassend. Die Zeit der raumsprengenden
Duftgötter ‚Antaeus’ und ‚Kouros’, die sich dem Primat femininer Dufthoheit zu
widersetzen begannen, war da noch längst nicht angebrochen, und so reihten sich die wenigen maskulinen Vertreter ihrer Art noch selbstverständlich hinter die häufig großkalibrig ausufernd duftende Damenriege ein.
Heutzutage sind wir längst kräftigere und offensivere Herrendüfte gewöhnt, von Unisex-Düften ganz zu schweigen, sodass wir einstige Vertreter dieses Genres, heißen sie nun ‚Eau Sauvage’, ‚Habit Rouge’, ‚Monsieur de
Givenchy’ oder eben ‚Cravache’, eher als verdruckste Leisetreter wahrnehmen, in
Verkennung ihrer kavalierhaften Zurückhaltung.
Das waren eben noch Düfte mit Manieren!

Als das Haus Piguet in den 70er Jahren der
Bedeutungslosigkeit entgegendämmerte und schließlich die Parfumproduktion
einstellte, war es auch um ‚Cravache’ geschehen – es verschwand für viele
Jahre. Allein ‚Bandit’ und ‚Fracas’, den großen Schwestern, war es vorbehalten das Piguet-Fähnlein hochzuhalten: ein US-Amerikanischer Konzern hatte die
Rechte an den alten Düften erworben und sich auf die etablierten, immer noch zugkräftigen Schlachtrösser beschränkt.
Erst 2007, im Zuge einer Revitalisierung der Marke kam es auch zu einer Wiedereinführung von Piguets erstem Herrenduft, jedoch in erheblich überarbeiteter Form: die Blüten verschwanden komplett, desgleichen die ledrigen Nuancen und auch das Agrumen-Intro wurde kräftig gerupft. Ergänzt wurde das solcherart skelettierte Cravache-Konzept allerdings mit einer ordentlichen Portion Muskatnuss, aromatischem Salbei und einem Bündel Süßgras.

Das neue ‚Cravache’ kam jetzt zwar mit etwas mehr Wumms daher, verströmte mit seiner würzig-muskatnussigen Fougère-Aura nun aber eher konservative
Gediegenheit, denn lederchypriges Draufgängertum (das es vorher zwar auch nicht besaß, aber unter der Fassade der Wohlerzogenheit zumindest andeutete).
Warum die Reitgerte, oder nach anderer Lesart: Lederpeitsche, so völlig entledert wurde, war mir immer schleierhaft, zumal das neue ‚Cravache’ mit seiner braven Biederkeit insgesamt altmodischer duftete als sein 44 Jahre älterer Vorgänger gleichen Namens. Hatte Piguet womöglich die Traute verlassen, die sie von den Cellier-Ikonen ‚Fracas’ und ‚Bandit’, über ‚Futur’ bis hin zu ‚Oud’ (fast) immer besaßen?

16 Jahre später ersetzt nun ein neues ‚Cravache’ den so
völlig leder- und blütenlosen Nachfahren des originalen ‚Cravache’ – diesmal in
EdP-Konzentration und mit erneut gravierend veränderter Rezeptur.
Zunächst: das Leder ist zurück! Und ja, sogar ein paar Blüten. Doch wer jetzt denkt, das gute alte Chypre mit der prägnant zitrusfruchtigen Eröffnung, dem würzigen, aber eben auch floralen Herzen und der holzig-ledrigen, feucht-moosigen Basis sei wieder auferstanden, der sei gewarnt: dem ist nicht so.
Zumindest nicht im Sinne einer detailgenauen Rekonstruktion.
Das originale Duftkonzept diente offenbar lediglich als Vorlage für eine neue,
ziemlich freie, den Vorlieben der modernen Parfümerie verpflichtete
Interpretation. So wird der ledrige Effekt zeittypisch im Zusammenspiel mit
erdigen Iris-Rhizomen und Safran kreiert, während die trocken-floralen Facetten
der Schwertlilie, mit einem Hauch Jasmin kombiniert, das Blüten-Bouquet neu definieren. Keinen Eingang in die aktuelle Rezeptur fand hingegen die dunkle
Rose des originalen ‚Cravache’.
Die Agrumen-Eröffnung wurde dagegen wieder etwas kräftiger akzentuiert, allerdings weniger im Stile einer hell aufstrahlenden Zitrus-Frische, als vielmehr von den komplexen bitterschaligen bis grünen Nuancen der
Bergamotte und des Petitgrain geprägt, ergänzt durch fruchtige Anklänge von
Bitter-Orange und Mandarine.
Geblieben ist der zentrale, den Duft charakterisierende krautige Lavendel-Akkord, von einer guten Dosis Salbei und einer Prise Muskatnuss aromatisiert, die im Gegensatz zur Ausgabe von 2007 allerdings keine tragende Rolle mehr spielt.
In der Basis schließlich ist der Chypre-Charkter des Orignial-Duftes nunmehr beinahe völlig verschwunden, nachdem er 2007 schon eher in die pudrig-moosige Fougère-Richtung driftete. Dort ist er nun vollends angekommen, bzw. schon wieder ein Stück darüber hinaus auf ein süß-würziges,
holzig-ambriertes, beinahe orientalisches Terrain gelangt.

Im Grunde verhält es sich mit dem neuen ‚Cravache’ ein wenig
wie mit dem Parfum von ‚Eau Sauvage’: der Spirit des Originalduftes ist zwar irgendwie noch da, aber derart paraphrasiert, dass er kaum noch erkennbar ist.
Die einstmals schlanken Chypre-Strukturen, denen in beiden Fällen eine gute Portion Eichenmoos als Fixativ diente, wurden Jahrzehnte später mächtig mit Cashmeran gepimpt und woody-ambrig aufgeplustert,
sodass sie zur Basis hin ein vanilleartig-süß-holziges Volumen entfalten, das –
zumindest im Falle von ‚Eau Sauvage Parfum’ – vor allem bei jüngeren
Generationen zuverlässig Begeisterung entfacht.
Mal schauen, ob das bei ‚Cravache Eau de Parfum’ auch funktionieren wird, die Anlagen sind jedenfalls da.
Einen kleinen, aber nicht ganz unerheblichen Unterschied zu
‚Eau Sauvage Parfum’ gibt es aber doch: das neue ‚Cravache’ ist immer noch erkennbar ‚Cravache’, nur eben in modischerem Outfit und gänzlich anderen
Proportionen: voluminöser, androgyner, synthetischer, ja und in gewisser Weise digitaler. Denn obwohl ich die beherzte zentrale Lavendel-Note noch rieche, die schon die beiden Vorgänger-Cravaches auszeichnete, habe ich das Gefühl in der neuesten Ausgabe die digitalisierte Fassung serviert zu bekommen.
Schlecht ist das nicht, nein, es ist nur anders und ich muss mich erst noch daran gewöhnen.

Eines aber weiß ich jetzt schon: ich werde das neue ‚Cravache’ mit Sicherheit häufiger tragen als die vorherige Version des Duftes, die mir schlichtweg zu konservativ war, zu sehr Börsenparkett, und dem die sehnige lederchyprige Maskulinität des Originalduftes abging. Dem Neuen fehlt sie zwar ebenso, ersetzt durch eine digitalisierte und genderfluide Modernität, mit der ich mich aber interessanterweise ganz gut anfreunden kann.
24 Antworten
ElAttarineElAttarine vor 17 Tagen
Eben erst gefunden und gelesen. Danke für die tolle Einordnung der Versionen!
MCPSMCPS vor 2 Jahren
Mangels Zeit lese ich längere Rezensionen nur selten. Hier lohnt es sich - ausdrucksstark geschrieben, hervorragend formuliert, kenntnisreich! Vielen Dank!
FlirtyFlowerFlirtyFlower vor 2 Jahren
Was für ein unglaublich faszinierend recherchierter Kommentar, da lass ich glatt nen Pokal da 🏆
NuiWhakakoreNuiWhakakore vor 2 Jahren
Eine sehr interessante Abhandlung, zumal ich gerade den mittleren Cravache teste und mir auch nicht so recht erklären konnte, was das ganze (schöne, runde, frische) Düftchen jetzt genau mit einer Ledergerte gemein hat. Bei dem neuen Cravache bin ich skeptisch. Auch die neuen Eau Sauvage fand ich zwar ganz gelungen, aber halt keinen Vergleich zum Original...
MonsieurTestMonsieurTest vor 2 Jahren
Sehr schön umsichtige Parfumgeschichte mit feinen Reflexionen zu Piguets Duftwnadlungen durch die Jahrzehnte.
FloydFloyd vor 2 Jahren
Großartige Rezension. Und wieder: Parfumo bildet. Danke dafür.
ParmaParma vor 2 Jahren
Sehr informative Auseinandersetzung mit den Cravache-Versionen. Ich kenne nur die mittlere, die ich ebenfalls sehr klassisch empfinde und bei der ich das Leder vermisst habe. Dein Ausdruck "Duft mit Manieren" gefällt mir sehr und ich hoffe, dass sich die Performance-Konzentration irgendwann totgelaufen hat.
ParmaParma vor 2 Jahren
Ein sehr passender Vergleich. Geht mir auch so. Das plakative und eintönige nervt sehr. Ich frage mich immer, ob die Parfumeur*innen, die solche Düfte machen, die auch machen würden, wenn sie denen immer wieder ausgesetzt wären. Wahrscheinlich nicht, aber sie bekommen diese neuen, vollsynth. Aromariechstoffe von den großen Duftherstellern serviert und sind als Angestellte bis zu einem bestimmten Grad sicher verpflichtet, diese zu nutzen. Alles eine große Geldmaschine. Von Kunst kann da keine Rede sein. Und das Tragische - aus unserer Sicht - ist, dass eine ganze Parfumgeneration davon geprägt wird und sowas als normal empfindet.
ProfumoProfumo vor 2 Jahren
2
Das hoffe ich auch, inständig. Ich habe ja nichts gegen kräftige, langanhaltende Düfte, aber es gibt da eine Kategorie, die ich einfach anstrengend finde, und die heißt: laut, plakativ & laut. Analog zur SUVisierung des öffentlichen Raums, gibt es auch eine Art SUVisierung des olfaktorischen Raums, die mich zunehmend überfordert.
ApiciusApicius vor 2 Jahren
Das macht neugierig. Das bisherige Cravache hatte mich nicht angesprochen.
IntersportIntersport vor 2 Jahren
Danke fuer den Cravache dreifach Überblick - es ist schon kurios, kürzlich musste ich bei Eau Noire über das Phänomen 'dritte Auflage' nachdenken und wie diese mit parfumistischen Zeitgeist gehen - gespannt bleibe ich auf das neue Bandit…
ProfumoProfumo vor 2 Jahren
Soll gelungen sein, das neue "Bandit". Hab' ich jedenfalls gehört.
GentilhommeGentilhomme vor 2 Jahren
Vielen Dank für Deinen Bericht, sehr gerne gelesen. Da ich mit den beiden alten Versionen schon seit 30 Jahren unterwegs bin, ist ein Test unausweichlich 😉
ScentwolfScentwolf vor 2 Jahren
Nenn mich stockkonservativ, aber diese, dem aktuellen Zeitgeist geschuldete digitale, genderfluide Modernität ist absolut nicht mein Ding.
Testen werde ich den gerne, werde mich aber anschließend möglicherweise mit El von Arquiste oder Jules völlig analog ausgiebig beduften…
Top Rezi von dir in gewohnter Qualität!
Klasse!!!
SebastianMSebastianM vor 2 Jahren
Ich danke Dir für diese äußerst lehrreiche Verortung der Cravaches im Zusammenhang ihrer Zeiten! Bei mir überwiegt die Nostalgie - trotz ihrer relativen Zurückhaltung erscheinen mir die alten Versionen vieler Parfüms (so ich denn einen Vergleich habe) als entschiedener und selbstbewusster als die modernen Nachschöpfungen. Ich bewundere Deine Aufgeschlossenheit gegenüber diesen Tendenzen, aber ich bringe für süßlichen Vanillepuder kein Interesse auf, wie androgyn und fluide auch immer.
KovexKovex vor 2 Jahren
Einen Versuch ist es allemal wert. Deine zeitgeschichtliche Analyse habe ich sehr gerne gelesen und im neugierig machen bist Du ohnehin ein Meister!
AxiomaticAxiomatic vor 2 Jahren
Eine mehr als gelungene Darstellung einer sehr wechselhaften Veränderung von Cravache.
Ich durfte mal die Urfassung vor zig Jahren riechen, verortete sie damals im Kontext zu Habit Rouge - bitte hier die unüberbrückbaren Unterschiede entschuldigen.
Ich ahne die Synthetik in der neuen Fassung und bleibe skeptisch. Aber ich kann natürlich eines besseren belehrt werden, immerhin wird hier ein großer Name tradiert.
MarieposaMarieposa vor 2 Jahren
Ich habe diese Reise durch die Parfumgeschichte sehr genossen.
Es geht mir übrigens häufig so, dass ich reformulierte, aber auch neue Düfte als weniger wagemutig und biederer empfinde als ihre olfaktorischen Großeltern. Wie schön, dass Cravache wieder auf seine alten Bahnen zurückgefunden hat und zumindest in die richtige Richtung läuft.
YataganYatagan vor 2 Jahren
Eine schöne Analyse, die auch generelle und plausible Schlüsse zum Charakter einstmaliger Herrendüfte zieht, - die mir gefallen und die ich ähnlich sehe.
Warum man seinerzeit Cravache ums Leder kastriert hat, war mir bei einer „Cravache“ auch immer schleierhaft, auch wenn ich die mittlere Version mochte - und besitze, aber selten trage. Die neue scheint jedenfalls einen Test wert. Bin neugierig!
PollitaPollita vor 2 Jahren
Das Eau Sauvage Parfum gefällt mir genau aus diesem Grund in der Basisnote gar nicht. Die Frische weicht hier einer für mich unangenehmen Holzigkeit. Das Origital EdT habe ich leider nie kennengelernt. Und hier kenne ich nur den gleichnamigen und sehr sympathischen Parfumo "Cravache". Den Duft sollte ich wohl mal testen.
ErgoproxyErgoproxy vor 2 Jahren
Das klingt nicht übel......
DuftJunkieDuftJunkie vor 2 Jahren
Konnte mich mit dem 2007er Cravache nie so recht anfreunden. Mit der neuen Auflage wird es anscheinend genauso werden. Der Begriff „digitalisiert“ in Bezug auf Parfums gefällt mir: viele Klassiker werden zT. digitalisiert und die Komplexität minimalisiert, wobei der Preis jedoch in vielen Fällen maximalisiert wird. Sehr schade um die vielen Klassiker.
PrzeginiaPrzeginia vor 2 Jahren
Wenn Du in den Sattel steigst, lässt Du all deine Ängste, Sorgen, Traurigkeiten und Probleme auf dem Boden zurück.…
Vielleicht sagt der Duft das aus…
ProfumoProfumo vor 2 Jahren
1
Da das neue 'Cravache' nun also doch aufgenommen wurde (Erscheinungsjahr übrigens: 2023), habe ich meinen Blog-Beitrag zu dem Duft hier nochmals gepostet.