Unchaned
Unchaneds Blog
vor 3 Jahren - 20.05.2021
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Geh' ein Stück mit mir

Die Morgendämmerung hat schon eingesetzt, als ich mich, an einem für den Mai noch sehr kalten Morgen, auf den Weg mache. Vom kleinen Häuschen meiner Freunde, das sie mir für einige Tage überlassen haben, ist es nur eine kurze Strecke Fußmarsch zum nahen, etwas abseits gelegenen Hof, der immer frische Landprodukte bereithält, für die Wenigen, die im Moment überhaupt noch vorbei kommen.

Ich habe mir nur schnell und nachlässig etwas übergezogen. Meine wetterfeste Jacke, die Hose in die alten Stiefel gestopft, die widerspenstigen Haare in einen schlichten Zopf, fertig. Ich bin mit mir und der Welt allein. Die ganze Nacht hindurch hat es noch geregnet und der Duft des nassen Grüns, der saftigen Wiesen und allerlei Pflanzen und Unterholz aus dem nahe gelegenen Waldstückchen stürmen ungeduldig auf mich ein, nachdem ich gerade ein paar Meter vom Haus entfernt bin und auf den asphaltierten Weg trete. Die hohe Luftfeuchtigkeit schwebt fast greifbar im diffusen Morgenlicht und die schwere und kühle Luft dringt wohltuend in meine Lungen. Ich nehme einige tiefe, befreiende Atemzüge. Die letzten Wochen mit immer wiederkehrenden, quälenden Rückenschmerzen waren nicht ganz leicht und ich bin froh mich hier in der ruhigen Selbstverständlichkeit der Natur etwas erholen zu können. Meine Brille ist jetzt schon leicht beschlagen und so stopfe ich sie einfach in meine Jackentasche, in der Beziehung war ich schon immer etwas zu nachlässig. Augenblicklich verschwimmt mein Blick noch mehr, aber es ist nur ein kurzer, mir bekannter Weg und es ist Niemand sonst unterwegs. Außerdem verlasse ich mich gern noch mehr auf meinen ältesten und besten Sinn, dem Riechen.

Meine Schritte werden lockerer und Geräuschfetzen der nicht weit entfernten Autobahn mischen sich gleichsam harmonisch mit dem morgendlichen Vogelgezwitscher. Ich brauche nur der kleinen Straße folgen, die in sanftem Bogen nach rechts direkt am Hof vorbei führt, aber ich bleibe an der kleinen Abzweigung des Wirtschaftswegs stehen, der nur eine unbedeutende Abkürzung ist, doch reizvoller als die asphaltierte Straße. Man kann leicht ausrutschen und der Länge nach in den Modder fallen, aber bevor ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, befinde ich mich schon auf dem kleinen Weg, die nasse Erde saugt und schmatzt unter meinen Sohlen und das Duftgemisch von Gras und Matsch und der herbe Geruch einiger Frühblüher bannt meine ganze Aufmerksamkeit und macht meine Seele leicht. Ich genieße den zwar verschwommen, aber nichtsdestotrotz wunderschönen weiten Blick übers Feld nach links und das Licht- und Schattenspiel einiger zum Glück nicht abgeholzter knorriger alter Bäume auf der anderen Seite entlang des Pfades. Allerlei Insekten begleiten und umschwirren mich, ein riesiger Brummer saust haarscharf an meinem linken Ohr vorbei, ich taumle fast, meinrechter Arm rudert in der Luft, die Hand greift nach Halt ins Leere.

Mir wird warm, ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke runter und lasse sie hinter mich gleiten. Undeutlich erkenne ich die vollgespritzten, schlammigen Stiefel und grün-bräunliches noch weiter hoch meine Beine bedecken, aber es stört mich nicht mehr. ‚Ich muss nur auf diesem Weg bleiben. Ja, ich brauche nur auf diesem Weg bleiben‘. Dieser beruhigende Gedanke zieht wie ein luftiges Band sanft durch meinen Kopf. Ich schaue ihm noch eine kurze Weile hinterher, denn er ist so schön. Dann lasse ich ihn los. Ich lasse alles los. So, wie ich es lange gelernt habe. Obwohl ich es immer schon wusste, ich hatte es nur vergessen. Von der Seite tritt ein kühler Hauch von Moos aus dem Schatten eines alten Baums hervor. Frisch, in unendlich vielen Grünfacetten, ein Hauch Blau dabei. Dazwischen wie kleine Lichtblitze Weiß, diamantenklar und rein. Der Geruch von Freiheit. Das war es schon immer für mich. Der Duft für alle Sehnsüchtigen. Der Duft von allen, die fern in die Heimat wollen.

Ich setzte meinen Weg fort. Ich habe ein wenig das Zeitgefühl verloren. Das Ziel, das ich mal hatte, ist bereits nicht mehr wichtig. Der aufgekommene Wind, der längst eine Melodie gebildet hat mit meinen unregelmäßig gewordenen Atemzügen, den Bewegungen meiner Arme und Beine, ja selbst meinem Herzschlag, hat den Geruch meiner Haut, meiner Haare aufgenommen und trägt ihn mit sich fort über das Land und in die Wolken und noch ein Stück weiter.

Ein aufgewecktes Schreien und Krächzen von mehreren Raben, die steil aus den Wipfeln der Buchenreihe nach oben steigen. Mühelos mit kräftigen Schwingen gegen den aufkommenden Wind aus West verdecken sie einen Teil des klaren grauen Himmels mit den aufreißenden Wolken, stark und stolz. Dies ist ihr Zuhause, schon immer Heimat. Kurz nur werfen sie noch einen achtlosen Blick nach unten. Dorthin, wo sie vorher noch meinen Kopf ausmachten.

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