Kouros (Eau de Toilette) von Yves Saint Laurent

Kouros 1981 Eau de Toilette

Reiser
20.02.2020 - 07:34 Uhr
65
Top Rezension
10Duft 9Haltbarkeit 9Sillage 10Flakon

Der Duft der weißen Stadt

Die frühen 80er verbrachte Herr Reiser als Student in Paris. Das Coming out war zum Ende der 70er in der Heimat absolviert worden. Nun war ganz viel Horizont, und dafür stand Paris ein. Die Zukunft ein weißes Blatt, das wir möglichst lang und schön beschreiben würden. So hofften wir. Weiß war auch die Stadt damals. Weiße Hosen und laute Hemden, die Uniform auf Boulevard und Campus. Wir hätten sie gern bei Saint Laurent gekauft, der die schönsten machte, konnten uns das aber nicht leisten. Wir schauten sie uns in seinem Store nur an. Der war weiß eingerichtet. Und mit Kouros beduftet. Auf der weißen Kundentoilette die milchweiße Kourosseife. YSL war einer unserer Helden. Er hatte sich schon in den 70ern nackig gemacht, als uns noch die Scham der Provinz regierte. Nun lebten wir in seiner die große Freiheit versprechenden Stadt und konnten ihn leibhaftig sehen. Theoretisch. Ich habe ihn nie gesehen, im La Coupole war er immer gerade weg oder würde ganz bald kommen. Bestimmt. Sagten sie. Er kam nie. Aber wir hatten Kouros, seinen Duft, von dem Luca Turin in seinem „Kleinen Buch der großen Parfums“ später schreiben wird, er rieche "wie die gebräunte Haut eines Kerls mit Pomade im Haar, der gerade aus der Dusche tritt". Wie sollte der uns nicht gefallen? Saint Laurent ließ Plakate hängen, auf denen der flache, marmorweiße Flakon, der archaischen Jünglingsplastiken nachempfunden war, vor blauem Himmel neben einen unfassbar perfekten nackten Mann rückte. Der Duft war so schockierend laut wie unsere Hemden und Clubs, die damals noch Discos hießen. Schmutzig und vollgepackt mit Aromen wie diese Hemden am Ende einer viel zu langen Partynacht voller Kontrollverlust. Laut und schmutzig fanden wir gut; und wir hatten auch nichts gegen die Pariser „tearooms“, die Pissoirs, mit denen man unseren Duft rasch in Verbindung brachte. Kouros roch wie unsere Nächte, Räusche und Eskapaden. Er stand nicht als ein definiertes Aroma im Raum, er war das gusseiserne Gefäß vieler an sich komplett unverträglicher Aromen, die plötzlich derart passend und überwältigend zusammenkamen, als könnte es gar nicht anders sein. Kräuter, die Sekrete von Tier und Mensch, Hölzer, Chemikalien wie aus Reinigungsmitteln, Campari, der dominante Koriander, den eigentlich alle Parfums der 80er auffuhren. Sehr stechende grüne Noten. Etwas müffelnd Aquatisches. Und zugleich eine ganz eigenartige Süße, die vielleicht dem Honig geschuldet war. Wir lernten, dass die animalische Puffnote, die am längsten hängen blieb, Zibet genannt wurde. Wir entschieden uns, Kouros für ein sexuelles Parfum zu halten. Ein Duft als Wette auf die Zukunft. Die Reaktionen der Leute in Bus und Metro bestätigten uns darin, dass die Sillage stark und unser Duft nicht deren Duft war. So wollten wir es haben. Nachts, in unseren Bars und Discos, roch wirklich ganz Paris nach Kouros. So will es wenigstens meine Erinnerung. Und als schmale Jungs waren wir selbst einem Kouros wohl niemals näher als in diesen Tagen. Kouros knüpfte ein dauerhaftes Band zwischen uns. Im Hörsaal erkannten wir einander, wenn wir diesen Geruch wahrnahmen. Wir trugen ihn wie die Signaltücher in der Jeans. Das ist der Zauber, den ein Duft haben kann: er stiftet stabile Verbindungen zu Orten, Zeiten, Menschen. Und wie auch immer sich der Duft in den folgenden Jahrzehnten veränderte, er blieb bei uns, als das weiße Blatt allmählich beschrieben wurde. Ganz anders, als wir gedacht hatten. Ein Virus kam und leerte die Bars und Discos. Die Leute wechselten von der Tanzfläche ins Krankenbett. Es ging so schnell, dass wir gar nicht verstanden, was mit unserer Welt passierte. Nun schmuggelten wir statt Blumen Kouros auf die Aids-Stationen, damit unsere Freunde wenigstens den vertrauten Duft nicht entbehren mussten. Und das Band hielt, bis zum Schluss. Über den immer häufiger werdenden Trauergesellschaften lag eine federleichte Kouros-Wolke, die davon zeugte, dass wir unsere wilden Jahre nicht bedauerten, sondern betrauerten. Die davon zeugte, dass wir uns als Gemeinschaft begriffen. Irgendwann hatten die meisten, die überlebten, Paris verlassen. Kouros wurde schwächer, aber das war in Ordnung, wir wurden es ja auch. Das Zibet-Aroma wird jetzt aus Algen gewonnen. Ich habe nichts dagegen. Hauptsache, ich erkenne den Duft noch wieder. Und wenn wir uns heute treffen, hier in Berlin oder anderswo, allesamt Herren um und über sechzig, Longtime-Survivors oder einfach Glückspilze, dann hat mindestens einer Kouros aufgelegt, als sentimentale Erinnerung an unsere weiße Stadt und die lauten schönen Jahre. Wir tragen Kouros nicht mehr oft, aber wenn – dann wissen wir, warum wir es tragen. Und manchmal genügt es, nur den marmorweißen Flakon in die Hand zu nehmen.
24 Antworten
LullabyLullaby vor 10 Monaten
Dankeschön für diese wundervolle Rezension. Sie wäre es Wert im Parfumo Podcast gewürdigt zu werden.
JaromilJaromil vor 1 Jahr
Eine wundervolle Rezession. Berührend.
Danke dafür.
ReiserReiser vor 4 Jahren
1
Nochmals ein herzlicher Dank für die vielen freundlichen Kommentare.
AxiomaticAxiomatic vor 4 Jahren
Prächtige Schilderung des damaligen Lebensgefühls! Freud und Leid dicht beieinander.
Kouros begleitet mich auch schon über viele, viele Jahre.
Danke für diese ergreifende Rezension!
IntersportIntersport vor 4 Jahren
1
Ausnahme Kommentar zu einem Ausnahme Duft, eine beeindruckende Mischung aus Anthropologie, Persönlichen und Kontext zu Kouros. Superb. Die aktuelle Version ist auch nicht von der Hand zu weisen und wesentlich schöner als vor ein paar Jahren.
ElPostoElPosto vor 5 Jahren
Grandios! Ergreifend! Perfekt!
BloodxclatBloodxclat vor 5 Jahren
Ein unglaublicher Kommentar zu diesem Duft. Warscheinlich einer der besten und fesselndsten Berichte auf dieser Seite.
JosefkaJosefka vor 5 Jahren
1
Wow, das ist einer der besten Kommentare, die ich hier bisher gelesen habe! So toll beschrieben, was die Magie eines Duftes kann. Danke!
Pauline1966Pauline1966 vor 6 Jahren
Ein Kurzroman..ein toller Kommentar, bildlich,lebhaft und sentimental geschrieben. Chapeau!!
MonaghanMonaghan vor 6 Jahren
4
Was fuer ein herrlicher Kommentar. Einfach genial!
StanzeStanze vor 6 Jahren
Gerade zum Zweiten Mal gelesen. Ist vielleicht der beste Kommentar überhaupt, der je zu irgendeinem Duft geschrieben wurde. Die 80er und Paris werden sehr lebendig. Für die Heten waren die 80er auch eine wilde Zeit. Als ich meine Ausbildung zur Krankenschwester begann anno 1994, hatten wir einen sterbenden AIDS-Patienten auf der Station. Damals hat man sich noch vermummt wie beim Chemieangriff. Er hatte eine Perücke und hat sie immer schnell aufgesetzt, wenn wir reinkamen. Das war sehr traurig.
TruuMaxTruuMax vor 6 Jahren
1
Hut ab!

Vielleicht die beeindruckendste und ergreifendste Bewertung die ich je auf Parfumo gelesen habe... Leider bin ich mit meinen nichtmal 20 Jahren zu jung die Zeit von damals zu kennen, die Eskapaden, das Gefühl des Aufbruchs und der Kreationen des mehr als genialen Yves Saint Laurent zu Lebzeiten...

Ich bin mir sicher, dass es in ihrem Himmel auch ab und zu nach Kouros riecht.
Can777Can777 vor 6 Jahren
Würde mich ein Duft beschreiben,dann wäre es Kouros. Die schönste Zeit meines Lebens war er bei mir und wird es immer sein! Beeindruckend,schöne Hommage!
YataganYatagan vor 6 Jahren
Ein durch und durch sprachlich souveräner Text. Kompliment!
ParmaParma vor 6 Jahren
1
Ganz starker Kommi! Der Duft war zwar nie meine Richtung, aber fasziniert hat er mich immer schon.
MeggiMeggi vor 6 Jahren
2
Grandioser Einstand.
Rookie82Rookie82 vor 6 Jahren
Sagenhafter Kommentar der eigentlich niemals nach unten rutschen dürfte. Danke für das teilhaben lassen an diesen außerordentlichen Momenten
ReiserReiser vor 6 Jahren
1
Vielen Dank für die freundlichen Reaktionen.
AFPAFP vor 6 Jahren
Kouros kam mir zuerst Anfang der 90er "in die Nase" - mein Chef benutzte das After Shave und zog immer eine fürchterliche Fahne hinter sich her...
Später habe ich mal die Avon-Version "Paros" geschenkt bekommen, war zunächst nicht mein Ding. Heute sehe ich das völlig anders: man muss wirklich lernen diesen Duft zu verstehen!
Vielen Dank für den gelungenen Kommentar; ich finde es schön, wenn sich solche olfaktorischen Verbindungen mit Orten ergeben. Bei mir ist es "Bel Ami" und Berlin...
ProfumoProfumo vor 6 Jahren
Damals habe ich Kouros gehasst und habe mit noch mehr Antaeus dagegen gearbeitet. Heute habe ich mich mit dem Duft versöhnt und finde ihn großartig. Und ja, die 80er waren laut, wild und heftig, und in diesen beiden Düften fanden sie ihre duftende Entsprechung. Zum Glück sind beide - wieder - in guter Verfassung!
RivegaucheRivegauche vor 6 Jahren
Gern gelesen. Darauf einen Drink im Les Bains :-)
BehaviourBehaviour vor 6 Jahren
das war bestimmt eine geile Zeit damals
PollitaPollita vor 6 Jahren
Sehr schöner persönlicher Kommentar. Gerne gelesen. Kouros-Pokal!
EstefaniaEstefania vor 6 Jahren
Ja. Das ist Kouros. Als Kind der 80 er hat mich Deine Erzählung tief berührt.