25.10.2020 - 16:50 Uhr
FvSpee
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FvSpee
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44
Neukölln 11: Humbert Humbert
Ok, eigentlich befinde ich mich in einer Phase akuter Test-Unlust und genieße meine Winterschätze. Aber den weitgehend pflichtenfreien (und zudem um eine Stunde verlängerten) Sonntag, an dem ich der Muße pflegen durfte, kann ich doch nicht ohne einen kleinen Cologne-Test verstreichen lassen.
Und dieser Test hat, trotz des Titel-Teasers, nichts mit Lolita zu tun, dafür etwas mit dem Haus Savoyen, dem dieser Duft gewidmet sein soll. Aber beginnen wie bei dem Parfumeur. Stefano Frecceri wird hier sowohl als Schöpfer dieses Duftes angeführt, dessen Erscheinungsjahr 1853 war, als auch als Nase hinter La Superba Rovo Nero von derselben Firma, 2008 auf den Markt gekommen. Nimmt man an, dass Frecceri den Duft Colonia Classica nicht vor seinem Abitur entworfen hat, ist er also mindestens 170 Jahre alt geworden, was ein weiterer Beleg für die gesundheitsfördlichen Wirkungen der Mittelmeerdiät ist. Stefano, Glückwunsch an dieser Stelle!
Nach verschiedenen mehr oder weniger seriösen Internetquellen (etwa "parfuemgefluester.de") war Frecceri Hofparfumeur des Königshauses von Savoyen und zugleich Gründer der Firma Acqua di Genova. Er schuf diesen Duft 1853, und dieser soll in den ersten Jahren den männlichen und weiblichen Angehörigen dieses Königshauses vorbehalten gewesen sein. Möglicherweise wurden Bauern und Handwerker, die sich trotzdem mit dem 800-ml-Ballon-Zerstäuber ("Spruzzatore") damit eindieselten, gevierteilt. Genaueres ist nicht überliefert.
Heuzutage weiß natürlich kein Schwanz mehr, was das Königshaus von Savoyen überhaupt war. Das ist einerseits traurig, andererseits gibt es mir hier wieder mal Gelegenheit zu einer Folge Infotainment.
Sovoyen war, ähnlich wie Lotharingien und Burgund, eines dieser Zwischenreiche, die sich im Laufe des Mittelalters gerne mal zwischen den großen Machtzentren wie Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich breit machten. Die Grenzen Savoyens änderten sich ständig, aber grob gesagt lag sein Herrschaftsbereich meistens im heutigen Länderdreieck Frankreich-Italien-Schweiz. Der erste Savoyerherrscher (noch im Range eines Grafen) war um das Jahr 1000 Humbert der Weißhändige (Umberto Biancomano). Von da an schafften es Savoyen und die Savoyerherrscher über die Jahrhunderte, immer obenauf zu schwimmen wie das Fett auf der Suppe. Einmal stellten sie sogar einen (Gegen-) Papst. Mit der Zeit verschob sich ihr Territorium mehr in Richtung Piemont und Sardinien. Etwa ab 1400 nannten die Herrscher sich nicht mehr Graf, sondern Herzog, und seit 1713 dann König. Irgendwann kam auch die Stadt Genua zum Herrschaftsgebiet dazu (wodurch der Name dieser Duftfirma dann verständlich wird).
Die Savoyer schafften es, immer abwechselnd extrem fortschrittlich und extrem reaktionär zu sein. In einer der reaktionären Phasen erließen sie (1825) ein Gesetz, nach dem Lesen und Schreiben nur für Reiche erlaubt war. Da war der vom Papst regierte Kirchenstaat gleich nebenan im Vergleich geradezu ein Hort der Aufklärung. 28 Jahre nach diesem Gesetz kam Stefano Frecceri mit diesem Duft hier um die Ecke, und wenige Jahre später (Zusammenhänge mit dem Duft sind noch nicht erforscht) war Savoyen (bzw. Piemont-Sardinien) mal wieder tierisch modern und vorbildlich, und zwar so sehr, dass sich die ganzen anderen italienischen Fürstentümer dem kleinen Königreich nach und nach anschlossen und zusammen den modernen Staat Italien bildeten. Das war prima für die Savoyerherrscher, die auf diese Weise Könige von Italien wurden.
Nachdem der vorletzte Savoyerkönig, Viktor Emmanuel III., ebenso lange (1900-1946) wie schlecht (nämlich als Steigbügelhalter und dann als Marionette Mussolinis) geherrscht hatte, übernahm 1946 wieder ein Humbert, nämlich Umberto II. die Krone, aber nur für einen Monat. Dann machte er sich einen schlanken Fuß nach Portugal, hielt sich aber bis zu seinem Tode 1983 noch immer für den König von Italien. Nach ihm kamen dann nur noch vollends peinliche Gestalten vom Kaliber des inzwischen psychiatrisch betreuten Prügelprinzen Ernst August von Hannover.
Ähnlich abwechselungsreich wie die Geschichte der Savoyer ist auch der Duftverlauf dieses Colognes, wobei die Rolle der Humberte hier die zitrischen Noten einnehmen: Sie machen die Tür auf und am Schluss auch wieder zu.
Den Auftakt macht eine ziemlich süße, ja geradezu kandierte Zitronen-Orangen-Melange (die Bergamotte sehe ich als quantité négligeable). Nach einigen Minuten dreht das Ganze ins Bitterherb-Krautig-Lavendelige mit einem Stich ins Seifige. Rosmarin oder irgendwelche anderen frischen Kräuter vermag ich nicht zu spüren, dafür eine ölig-nerölige Schmierung der Duftmechanik. Nach etwa 15 bis 20 Minuten hat der Duft eine Phase erreicht, die für mich die schlimmste ist, weil ich sowas in Colognes nicht leiden kann, wenn es nicht extrem gut verbaut ist (ist es hier nicht). Es war aber wahrscheinlich Anno Tuback das ganz besondere Etwas: Eine tranig-geranige, etwas schlierige dunkle Rose. Ob bulgarisch oder nicht, wer weiß das schon.
Nach etwa einer Stunde will man diesen Duft schon abschreiben, und dann, zack, reißt er sich zusammen, und die ganzen bis dahin wild in der Gegend rumeiernden Duftnoten sortieren sich wie von unsichtbaren Magneten gezogen in perfekter Ordnung neu an. Dann riecht man (für noch etwa 1-2 Stunden, sehr leicht) eine wunderfeine, leicht herbe, heitere Zitrik (nicht mehr süß) mit etwas Lavendelpudrigkeit und einer frischen Holzigkeit, die weder angestaubt knarzig noch modern trivial ist. Gäbe es nur diese Basisnote, wäre das ein 9-Punkte-Plus-Duft. Aber bei einem Cologne kommt es ja eher auf Anfang und Mitte an, und da vermag mich dieser Duft nicht recht zu überzeugen.
Ergo: Viva la Repubblica!
Und dieser Test hat, trotz des Titel-Teasers, nichts mit Lolita zu tun, dafür etwas mit dem Haus Savoyen, dem dieser Duft gewidmet sein soll. Aber beginnen wie bei dem Parfumeur. Stefano Frecceri wird hier sowohl als Schöpfer dieses Duftes angeführt, dessen Erscheinungsjahr 1853 war, als auch als Nase hinter La Superba Rovo Nero von derselben Firma, 2008 auf den Markt gekommen. Nimmt man an, dass Frecceri den Duft Colonia Classica nicht vor seinem Abitur entworfen hat, ist er also mindestens 170 Jahre alt geworden, was ein weiterer Beleg für die gesundheitsfördlichen Wirkungen der Mittelmeerdiät ist. Stefano, Glückwunsch an dieser Stelle!
Nach verschiedenen mehr oder weniger seriösen Internetquellen (etwa "parfuemgefluester.de") war Frecceri Hofparfumeur des Königshauses von Savoyen und zugleich Gründer der Firma Acqua di Genova. Er schuf diesen Duft 1853, und dieser soll in den ersten Jahren den männlichen und weiblichen Angehörigen dieses Königshauses vorbehalten gewesen sein. Möglicherweise wurden Bauern und Handwerker, die sich trotzdem mit dem 800-ml-Ballon-Zerstäuber ("Spruzzatore") damit eindieselten, gevierteilt. Genaueres ist nicht überliefert.
Heuzutage weiß natürlich kein Schwanz mehr, was das Königshaus von Savoyen überhaupt war. Das ist einerseits traurig, andererseits gibt es mir hier wieder mal Gelegenheit zu einer Folge Infotainment.
Sovoyen war, ähnlich wie Lotharingien und Burgund, eines dieser Zwischenreiche, die sich im Laufe des Mittelalters gerne mal zwischen den großen Machtzentren wie Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich breit machten. Die Grenzen Savoyens änderten sich ständig, aber grob gesagt lag sein Herrschaftsbereich meistens im heutigen Länderdreieck Frankreich-Italien-Schweiz. Der erste Savoyerherrscher (noch im Range eines Grafen) war um das Jahr 1000 Humbert der Weißhändige (Umberto Biancomano). Von da an schafften es Savoyen und die Savoyerherrscher über die Jahrhunderte, immer obenauf zu schwimmen wie das Fett auf der Suppe. Einmal stellten sie sogar einen (Gegen-) Papst. Mit der Zeit verschob sich ihr Territorium mehr in Richtung Piemont und Sardinien. Etwa ab 1400 nannten die Herrscher sich nicht mehr Graf, sondern Herzog, und seit 1713 dann König. Irgendwann kam auch die Stadt Genua zum Herrschaftsgebiet dazu (wodurch der Name dieser Duftfirma dann verständlich wird).
Die Savoyer schafften es, immer abwechselnd extrem fortschrittlich und extrem reaktionär zu sein. In einer der reaktionären Phasen erließen sie (1825) ein Gesetz, nach dem Lesen und Schreiben nur für Reiche erlaubt war. Da war der vom Papst regierte Kirchenstaat gleich nebenan im Vergleich geradezu ein Hort der Aufklärung. 28 Jahre nach diesem Gesetz kam Stefano Frecceri mit diesem Duft hier um die Ecke, und wenige Jahre später (Zusammenhänge mit dem Duft sind noch nicht erforscht) war Savoyen (bzw. Piemont-Sardinien) mal wieder tierisch modern und vorbildlich, und zwar so sehr, dass sich die ganzen anderen italienischen Fürstentümer dem kleinen Königreich nach und nach anschlossen und zusammen den modernen Staat Italien bildeten. Das war prima für die Savoyerherrscher, die auf diese Weise Könige von Italien wurden.
Nachdem der vorletzte Savoyerkönig, Viktor Emmanuel III., ebenso lange (1900-1946) wie schlecht (nämlich als Steigbügelhalter und dann als Marionette Mussolinis) geherrscht hatte, übernahm 1946 wieder ein Humbert, nämlich Umberto II. die Krone, aber nur für einen Monat. Dann machte er sich einen schlanken Fuß nach Portugal, hielt sich aber bis zu seinem Tode 1983 noch immer für den König von Italien. Nach ihm kamen dann nur noch vollends peinliche Gestalten vom Kaliber des inzwischen psychiatrisch betreuten Prügelprinzen Ernst August von Hannover.
Ähnlich abwechselungsreich wie die Geschichte der Savoyer ist auch der Duftverlauf dieses Colognes, wobei die Rolle der Humberte hier die zitrischen Noten einnehmen: Sie machen die Tür auf und am Schluss auch wieder zu.
Den Auftakt macht eine ziemlich süße, ja geradezu kandierte Zitronen-Orangen-Melange (die Bergamotte sehe ich als quantité négligeable). Nach einigen Minuten dreht das Ganze ins Bitterherb-Krautig-Lavendelige mit einem Stich ins Seifige. Rosmarin oder irgendwelche anderen frischen Kräuter vermag ich nicht zu spüren, dafür eine ölig-nerölige Schmierung der Duftmechanik. Nach etwa 15 bis 20 Minuten hat der Duft eine Phase erreicht, die für mich die schlimmste ist, weil ich sowas in Colognes nicht leiden kann, wenn es nicht extrem gut verbaut ist (ist es hier nicht). Es war aber wahrscheinlich Anno Tuback das ganz besondere Etwas: Eine tranig-geranige, etwas schlierige dunkle Rose. Ob bulgarisch oder nicht, wer weiß das schon.
Nach etwa einer Stunde will man diesen Duft schon abschreiben, und dann, zack, reißt er sich zusammen, und die ganzen bis dahin wild in der Gegend rumeiernden Duftnoten sortieren sich wie von unsichtbaren Magneten gezogen in perfekter Ordnung neu an. Dann riecht man (für noch etwa 1-2 Stunden, sehr leicht) eine wunderfeine, leicht herbe, heitere Zitrik (nicht mehr süß) mit etwas Lavendelpudrigkeit und einer frischen Holzigkeit, die weder angestaubt knarzig noch modern trivial ist. Gäbe es nur diese Basisnote, wäre das ein 9-Punkte-Plus-Duft. Aber bei einem Cologne kommt es ja eher auf Anfang und Mitte an, und da vermag mich dieser Duft nicht recht zu überzeugen.
Ergo: Viva la Repubblica!
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