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Top Rezension
Der Baltische Weg
So richtig hatte ich es wohl nicht verstanden.
Seit Stunden schon rollte unser alter Lada durch sommerliche Birkenwälder und Oma war neben mir auf der Rückbank eingenickt, während ich prüfend beobachtete, wie meine Mutter auf dem Beifahrersitz aufgeregt an ihren nagelneuen Wildlederhandschuhen herumzupfte. Sie trug das grüne Kleid aus dem seidigen Stoff, das sie sonst nur aus dem Schrank holte, wenn jemand heiratete, und auch mich hatte sie mit so feierlicher Miene in meine besten Kleider gesteckt, dass es jeden aufkeimenden Protest im Keim erstickte. Am Steuer lächelte mein Vater vor sich hin und trommelte mit einer Hand den Rhythmus des Liedes, das er summte.
Nein, irgendetwas hatte ich wohl nicht verstanden.
Es war eins von diesen Drinnen-Liedern, die wir Kinder nicht im Garten oder auf der Straße singen durften und welche die Erwachsenen mit angespannten Kiefern gemeinsam hinter verschlossenen Türen anstimmten. Ich seufzte und spürte nach, wie mein Herz ein wenig schneller schlug. Ich verengte die Augen zu Schlitzen, bis das vage Grün der Birkenblätter im Sonnenlicht zerfloss und atmete den Duft der Lederhandschuhe, doch dann verlor das Auto an Geschwindigkeit.
Plötzlich war die Straße da draußen voller achtlos geparkter Autos und Menschen, die uns freundlich weiterwinkten, bis auch wir den Lada am Rande einer Blumenwiese stehen ließen, eine Lücke füllten.
Und vielleicht verstand ich doch ein wenig, als Oma mit unsicheren Beinen und einem Tränchen im Auge aus dem Wagen kletterte, als uns die Menschen hier mitten auf der Straße, mitten im Nirgends freudig empfingen und ich sah, wie meine Mutter mit geröteten Wangen einmal tief durchschnaufte.
Dann schloss sich das Leder ihres Handschuhs um meine Hand und ich schob die andere ganz selbstverständlich in Omas Hand, doch nicht nur ich – wie auf ein geheimes Zeichen hielten sich all diese Fremden an den Händen. Das Gemurmel erregter Stimmen verstummte und Energie schien vibrierend von Mensch zu Mensch zu laufen. Für einen Moment war alles still, bis von irgendwoher ein Drinnen-Lied ertönte.
Wir alle stimmten ein.
***
Sleeping Quechua ist ein leiser, sanfter und authentischer Wildlederduft. In der Kopfnote wird der Lederakkord noch von einer wunderbar widerspenstigen Engelswurz unterstützt, was sich so perfekt ergänzt, dass ich mich unwillkürlich frage, warum man diese Kombination nicht ständig riecht. Außerdem flirrt da noch etwas Pfeffer in der Peripherie, der mir ohne Blick auf die Notenliste jedoch nicht aufgefallen wäre. Auch von Mate rieche ich nichts, assoziiere eher helles Blattgrün, das sich nach und nach mit heuartigem Tabak und einem minimalindolischen Jasminherzschlag verwebt. All diese Noten bleiben jedoch durchgehend am Rande und bilden lediglich einen zurückhaltenden Chor rund um diesen simplen, geradlinigen und fein ausbalancierten Lederakkord, der mir bei jedem Tragen noch etwas besser gefällt und der tatsächlich bis in die moschuslastige, hintergründig animalische Basis stabil bleibt.
So reduziert und modern wie er ist, erinnert mich der Duft in seiner Struktur und der klaren Sprache ein wenig an Cuir d'Ange , wobei Sleeping Quechua mit seinen grünen Akzenten deutlich herber ist.
Konzeptionell möchte Aistis Mickevičius, die schöpferische Kraft hinter FUMparFUM, zwar eigentlich in die Anden einladen, ich bleibe hier gedanklich jedoch immer in Mickevičius‘ litauischer Heimat hängen, und zwar am 23. August 1989 um 19.00 Uhr, um präzise zu sein. An jenem Tag, an dem Händchenhalten die Welt veränderte, als ca. zwei Millionen Menschen für eine Viertelstunde über mehr als 600 Kilometer hinweg von Tallinn über Riga bis nach Vilnius eine ungebrochene Menschenkette quer durch das Baltikum bildeten, Lieder sangen, die ihnen die russische Besatzungsmacht verboten hatte und so mit gewaltlosem Widerstand und einer Prise zivilem Ungehorsam für die Unabhängigkeit ihrer Länder eintraten. Diese legendäre Menschenkette ging unter der Bezeichnung „der Baltisch Weg“ in die Geschichte ein und ist als friedlicher Moment, der die Freiheit feiert, beispiellos geblieben.
Ich war leider noch nie im Baltikum und kenne auch nur einen einzigen Litauer, nämlich meinen Opa, der mit seiner sturen Sanftmut so vieles verkörperte, was notwendig gewesen sein muss, um all diese Menschen über Landesgrenzen, soziale Schichten, Alter und Geschlecht hinweg in einer Idee zu vereinen. Genau diese Kraft der leisen Töne, diese widerspenstige Zärtlichkeit finde ich in Sleeping Quechua wieder und freue mich über jeden Spritzer dieses Dufts, der so einen feinen Nerv bei mir trifft.
Mein Opa ist leider sehr jung gestorben und hat den Baltischen Weg nicht miterlebt. Vermutlich hätte er nicht mal viel dazu gesagt, wäre nur lächelnd auf seiner Bank vor dem Haus im Chiemgau gesessen und hätte ein Lied gesummt. Doch irgendwie gefällt mir der Gedanke, dass er sich freuen würde, weil ich nun diesen sanften Lederduft trage, der aus Litauen stammt und den ich assoziativ mit ihm und diesem ganz besonderen Tag verbinde.
Liebe Misca, ich danke dir von ganzem Herzen, dass du es mir ermöglicht hast, diesen Duft kennenzulernen.
Seit Stunden schon rollte unser alter Lada durch sommerliche Birkenwälder und Oma war neben mir auf der Rückbank eingenickt, während ich prüfend beobachtete, wie meine Mutter auf dem Beifahrersitz aufgeregt an ihren nagelneuen Wildlederhandschuhen herumzupfte. Sie trug das grüne Kleid aus dem seidigen Stoff, das sie sonst nur aus dem Schrank holte, wenn jemand heiratete, und auch mich hatte sie mit so feierlicher Miene in meine besten Kleider gesteckt, dass es jeden aufkeimenden Protest im Keim erstickte. Am Steuer lächelte mein Vater vor sich hin und trommelte mit einer Hand den Rhythmus des Liedes, das er summte.
Nein, irgendetwas hatte ich wohl nicht verstanden.
Es war eins von diesen Drinnen-Liedern, die wir Kinder nicht im Garten oder auf der Straße singen durften und welche die Erwachsenen mit angespannten Kiefern gemeinsam hinter verschlossenen Türen anstimmten. Ich seufzte und spürte nach, wie mein Herz ein wenig schneller schlug. Ich verengte die Augen zu Schlitzen, bis das vage Grün der Birkenblätter im Sonnenlicht zerfloss und atmete den Duft der Lederhandschuhe, doch dann verlor das Auto an Geschwindigkeit.
Plötzlich war die Straße da draußen voller achtlos geparkter Autos und Menschen, die uns freundlich weiterwinkten, bis auch wir den Lada am Rande einer Blumenwiese stehen ließen, eine Lücke füllten.
Und vielleicht verstand ich doch ein wenig, als Oma mit unsicheren Beinen und einem Tränchen im Auge aus dem Wagen kletterte, als uns die Menschen hier mitten auf der Straße, mitten im Nirgends freudig empfingen und ich sah, wie meine Mutter mit geröteten Wangen einmal tief durchschnaufte.
Dann schloss sich das Leder ihres Handschuhs um meine Hand und ich schob die andere ganz selbstverständlich in Omas Hand, doch nicht nur ich – wie auf ein geheimes Zeichen hielten sich all diese Fremden an den Händen. Das Gemurmel erregter Stimmen verstummte und Energie schien vibrierend von Mensch zu Mensch zu laufen. Für einen Moment war alles still, bis von irgendwoher ein Drinnen-Lied ertönte.
Wir alle stimmten ein.
***
Sleeping Quechua ist ein leiser, sanfter und authentischer Wildlederduft. In der Kopfnote wird der Lederakkord noch von einer wunderbar widerspenstigen Engelswurz unterstützt, was sich so perfekt ergänzt, dass ich mich unwillkürlich frage, warum man diese Kombination nicht ständig riecht. Außerdem flirrt da noch etwas Pfeffer in der Peripherie, der mir ohne Blick auf die Notenliste jedoch nicht aufgefallen wäre. Auch von Mate rieche ich nichts, assoziiere eher helles Blattgrün, das sich nach und nach mit heuartigem Tabak und einem minimalindolischen Jasminherzschlag verwebt. All diese Noten bleiben jedoch durchgehend am Rande und bilden lediglich einen zurückhaltenden Chor rund um diesen simplen, geradlinigen und fein ausbalancierten Lederakkord, der mir bei jedem Tragen noch etwas besser gefällt und der tatsächlich bis in die moschuslastige, hintergründig animalische Basis stabil bleibt.
So reduziert und modern wie er ist, erinnert mich der Duft in seiner Struktur und der klaren Sprache ein wenig an Cuir d'Ange , wobei Sleeping Quechua mit seinen grünen Akzenten deutlich herber ist.
Konzeptionell möchte Aistis Mickevičius, die schöpferische Kraft hinter FUMparFUM, zwar eigentlich in die Anden einladen, ich bleibe hier gedanklich jedoch immer in Mickevičius‘ litauischer Heimat hängen, und zwar am 23. August 1989 um 19.00 Uhr, um präzise zu sein. An jenem Tag, an dem Händchenhalten die Welt veränderte, als ca. zwei Millionen Menschen für eine Viertelstunde über mehr als 600 Kilometer hinweg von Tallinn über Riga bis nach Vilnius eine ungebrochene Menschenkette quer durch das Baltikum bildeten, Lieder sangen, die ihnen die russische Besatzungsmacht verboten hatte und so mit gewaltlosem Widerstand und einer Prise zivilem Ungehorsam für die Unabhängigkeit ihrer Länder eintraten. Diese legendäre Menschenkette ging unter der Bezeichnung „der Baltisch Weg“ in die Geschichte ein und ist als friedlicher Moment, der die Freiheit feiert, beispiellos geblieben.
Ich war leider noch nie im Baltikum und kenne auch nur einen einzigen Litauer, nämlich meinen Opa, der mit seiner sturen Sanftmut so vieles verkörperte, was notwendig gewesen sein muss, um all diese Menschen über Landesgrenzen, soziale Schichten, Alter und Geschlecht hinweg in einer Idee zu vereinen. Genau diese Kraft der leisen Töne, diese widerspenstige Zärtlichkeit finde ich in Sleeping Quechua wieder und freue mich über jeden Spritzer dieses Dufts, der so einen feinen Nerv bei mir trifft.
Mein Opa ist leider sehr jung gestorben und hat den Baltischen Weg nicht miterlebt. Vermutlich hätte er nicht mal viel dazu gesagt, wäre nur lächelnd auf seiner Bank vor dem Haus im Chiemgau gesessen und hätte ein Lied gesummt. Doch irgendwie gefällt mir der Gedanke, dass er sich freuen würde, weil ich nun diesen sanften Lederduft trage, der aus Litauen stammt und den ich assoziativ mit ihm und diesem ganz besonderen Tag verbinde.
Liebe Misca, ich danke dir von ganzem Herzen, dass du es mir ermöglicht hast, diesen Duft kennenzulernen.
28 Antworten
Den Duft werde ich mir merken.
Nun hab ich große Lust auf den Duft - und nicht nur, weil ich nach wie vor nach schönen Lederdüften suche…
🏆
Somit nun fast ein Pflichttest für mich. Vielleicht bekomme ich dann ja eine Ahnung von dieser Verbundenheit untereinander.
ist aber schön wenn Duft
solche Erinnerungen weckt 😃
Gemeinsamkeiten-Pokal für dich. Danke 🙏
Und das Baltikum steht seit einer bezaubernden Polenreise unlängst
Auf der Liste weit oben.
Vielen lieben Dank für die Erinnerung an den „Baltischen Weg“!
Der Duft steht schon auf meiner ML, zurecht!