Wieso ist im Strafrecht eigentlich nur die Rede von der Störung der Totenruhe? Der Gesetzestext liest sich gruselig genug, um es dennoch zu wagen.
Wie steht es aber mit der Störung der Lebendenruhe?
Dieser Duft hier wird wohl ein paar spitzfindige Kommentatoren der Rechtswissenschaft und Normalsterbliche vielleicht zum Schmunzeln bringen.
Ich bekam eine schwarze Schachtel mit länglichem Flakon eines Tages von einem lieben Parfumo, Ergoproxy, geschickt.
Zugegeben, einen Hauch von Sarg hatte das Präsent schon.
Nun ist es im November recht unschwer, sich inmitten des kaltfeuchten Nebels gedanklich zu verirren. Da spielt einem schon so manch verschiedene Seele einen Streich. Und ein lieber verstorbener Freund regt mich wahrscheinlich an, Folgendes festzuhalten.
Aber dafür lade ich an die Spree ein.
Schwarzlose, welch edles Haus!
Die wahre Duft-Pracht entfaltet sich im KaDeWe und den luxuriösen Straßen rund um den oberen Kurfürstendamm, Charlottenburg und Wilmersdorf geben sich die Ehre.
Nun ist es so, gedanklich oder physisch, eine Reise in die Hauptstadt beinhaltet für mich den obligatorischen Besuch beim besten Schokoladen-Meister unserer Dimension, Erich Hamann.
Feiner Laden, schöne Einrichtung aus den 1920er, Tradition pur.
Und in diesem traditionsreichen Sinne sprühe ich mir mit hoher Erwartung den Duft vor dem Laden auf.
Zisch!
Liebes Forum, leider verfügt der Schokoladen-Laden nur über wenige Sitzmöglichkeiten. Man geht rein, bestellt, bezahlt und genießt die Preziosen daheim. An und für sich ein gut funktionierendes Konzept, welches mich aber leider draußen an der Brandenburgischen Straße taumeln läßt, da besagte Sitzplätze belegt sind.
Was jagt gerade meine Nase hoch?
Gruseligerweise wehte dieser Duft zu weit in Richtung Westen bis zum Zehlendorfer Friedhof.
Ganz genau, jene vornehme Ruhestätte, welche von uns gegangene Patrizier aufnimmt, unter anderem Größen wie den Schauspieler Heinrich George, den Vater von Schimanski-Darsteller Götz George.
Doch das laue Lüftchen hat es wohl eher auf andere Verstorbene abgesehen und ein paar Damen den ewigen Schlaf geraubt. Weltbekannt auf Funk und Fernsehen - räusper - standen sie im Musical Linie 1 auf den Brettern, die die Welt bedeuten.
Reizende Witwen der gehobenen Gesellschaft. Die langen Ruhejahren haben ihnen ihre Bissigkeit und Uneinsichtigkeit etwas abgemildert. Doch ihre preußische Standhaftigkeit ist um keinen Millimeter gewichen.
Und so machen sie sich auf in Richtung Wilmersdorf. Ganz adrett gekleidet in schwarzen Kostümen, seidener Bluse in weiß und den obligatorischen dreifachen Perlenketten steigen sie am vornehmen Mexiko-Platz in die U-Bahn ein.
Nichtsahnend versuche ich mich derweil an der Straßenlaterne festzuhalten. Eine Mixtur aus Hesperiden und bitteren Pflanzen samt Pfeffer läßt mein Leben Revue passieren. Oh weh, hoffentlich habe ich keinen grünen Stechapfel gegessen!
Nach ein paar Atemübungen kehrt meine scheue Seele wieder in meinen Körper zurück, das freche Ding wollte sich einfach verduften!
Also, was hat mich denn so umgehauen? Schwer zu erklären, so einfach ist die Eröffnung nicht. Sie gestaltet sich eher wie ein Ringelreihen des Okkulten. Kaum hat man eine schöne Bitterorange ausmachen können, platzt eine mächtig herbgrüne Pflanze rein. Ob Eibe oder Lebensbaum, die subtile Giftigkeit streift die Friedhofsmauern. Prächtige Grabstätten werden mitunter von schönen Louvre-Vasen flankiert, in welchen so mancher Farn über die Totenruhe wacht.
Meine Haut passt sich der Stimmung an und wird kreidebleich, die obligatorischen dunklen Ränder zieren meine Augen.
Und von der U-Bahnstation Konstanzer Straße her trippeln mir geisterhafte Damen entgegen.
Der Duftverlauf verschafft mir Einblicke in ihre schönen Villen. Akkurat geschnittene, symmetrisch angelegte Buchsbaum-Hecken ordnen den hellen Kiesweg zum Hauptportal des Hauses. Der nördliche Breitengrad Berlins erlaubt eher Nadelbäume im parkähnlichem Garten. Gepflegte Rabatten verschiedener Beifuß-Sorten schaffen eine eigenwillige Eleganz inmitten märkischen Sandes.
Menschenskinder, die lassen sich nicht lumpen!
Donnerwetter, hier läßt es sich aushalten!
Was für ein Akkord!
Ja und dann…
Ein resoluter Ellbogen stößt mich zur Seite. Bevor ich mich fangen kann, werde ich auch angekeift.
(Der Einfachheit halber werde ich von Agathe, Kriemhild, Lotti und Martha nur die Anfangsbuchstaben verwenden.)
Vom Stoß bekomme ich eine leichte Atemnot und werde etwas bläulich.
K: Sie da im unpässlichen Kapuzenpulli, machen Sie gefälligst den Weg frei!
A: Welch unerträgliche Chemikalie verströmt denn diese Person?
L: Und das am hellerlichten Tage mitten in Berlin!
M: Aber Lotti, das sind doch diese Lumpen, die nach blauem Amber duften wollen. Der kommt sich wohl ganz famos vor.
K: Der läuft schon ganz schön blau an, der gemeine Karpfen hier.
L: Ach stimmt ja, der Karpfen blau hat es vom Teller auf die Straße geschafft!
K: Ein Skandal ist es!
Alle: Ein Skandal!
Mit spärlicher Sauerstoffreserve japse ich ihnen entgegen.
Ich: Entschuldigung, was habe ich denn getan?
M: Unerhört! Ja sehen sie es denn nicht? Sie verderben uns die Kauflaune auf Konfekt!
Ich: Ich habe doch lediglich Fougair von Schwarzlose aufgetragen.
K: Eine Unverschämtheit aus so einem Munde den gloriosen Firmennamen zu hören! Wo bleibt mein Gehstock?
A: Laß Kriemhild, an so einem machen wir uns doch nicht die Finger schmutzig.
L: Entschuldigen Sie, aber Sie verwechseln hier einen dunkelblauen Flakon von Dior mit bester Berliner Manufaktur! Dazu noch dieses Bärtchen von Schauspieler mit Gitarre. Welch Vorstellung!
So langsam werde ich unpässlich trotz drohender Ohnmacht.
Ich: Kann ich was dafür, dass Frau Nyberg auf Ambroxan für ein Neo-Fougère schwört?
Alle: Ein Skandal! Wo bleibt der Schutzmann?
M: Neo, new, ny, hier wird Deutsch gesprochen!
Sagen Sie der Frau Neuberg, dass der Neu-Farn grandios chemisch enttäuscht, Sie Neu-Urning!
L: Neu-Urning, das ist gut!
Ich: Lieber ein Neu-Urning als eine olle Giftschleuder!
L: Aaaaaahhhhhh!!!
Sie fällt fast in Ohnmacht.
K: Lotti, wir haben den Zusammenbruch überlebt, die Blockade, die Mauer, die Apo, die Hausbesetzer!
M: Und Jahrzehnte arm aber sexy Ideologie! Da werden wir erst recht mit so einem fertig!
Ja wer sind wir denn?
Und dann singen sie.
Alle: Wir sind die Diademe, der Riech-Hauptsadt Berlin.
Die Buttercreme de la Crème,
die Queens der Tauentzien.
Vom Ku’damm bis zum KaDeWe
sind wir die Sahne im Kaffee.
Wie vor ein paar Jahren
tiri tiri tiralala
Wie vor ein paar Jahren
tärä tärä tärä
Berlin erstickt in Plörre
und Amboxanten-Pack,
nur eins kann da noch wirken
Knüppel aus dem Sack!
Jawohl!
Mit Rosenholz und Amberstein
wird unsere Stadt bald sauber sein!
Wie vor ein paar Jahren
tiri tiri tiralala
Wie vor ein paar Jahren
tärä tärä tärä
Ja wir Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin!
Sonst wären wir längst ambroxisch, schön toxisch, blaugrün!
Was nach uns kommt ist schiete,
denn wir sind die Elite!
Wir Wilmersdorfer Witwen!
Wir Zehlendorfer, Dahlemer,
Charlottenburger, Steglitzer,
wir Lichterfelder, Grunewalder,
Wilmersdorfer Witwen!
Beim Aufwachen im Krankenwagen grinst mich ein Sanitäter an und übergibt mir eine schöne Pralinen-Schachtel, die neben meinem regungslosen Körper gefunden wurde. Die Sauerstoffmaske rutscht mir beim Lesen der Widmung in elegantem Schriftzug runter.
„Als kleine Wiedergutmachung. Besuchen Sie uns bald wieder!“