Heute trug er New York Intense.
Machte es eigentlich Sinn, ein Parfum nach einer Stadt
zu benennen, die selbst schon intensiv genug roch?
Eigentlich könnte er mal was über die unterschiedlichen
Düfte der Stadt in seinen neuen Roman einbauen.
Aber andererseits – wozu?
Am Ende würde es zu sehr ablenken vom eigentlichen
Plot. Der war schon schwer genug zu verstehen,
jedenfalls für normale Leute.
Auf jeden Fall mochte er den Duft.
Den des Parfüms, nicht den der Stadt am Hudson.
Deshalb hatte er noch mal nachgesprüht, bevor er in die
Tram der Linie 4 gestiegen war, um in die Fröhlichstraße
zu fahren. Praktischerweise befand sich in den Tiefen
seiner Barbourjacke eine Abfüllung davon. Ein Freund
hatte sie ihm gegeben, ein Architekt und Kunstkenner
aus Süddeutschland. Einer der wenigen Menschen,
auf dessen Urteil er etwas gab.
Er lehnte sich zurück und schaute auf das Stückchen
Zürichsee, das im leichten Frühabenddunst zu sehen war.
Er mochte die selbstbewusst zitronig-würzige Aura dieses
Dufts. Ihre irgendwie powerhousigen, orientalischen
Andeutungen. Sehr sogar. Da passierte viel auf einmal -
wie in seinen Büchern. Gleichzeitig fast altmodische
Herren-Frische und komplexe Würze mit Nelke, Pfeffer
und Zimt-Andeutungen, stabilisiert durch sehr zurück-
genommenen animalische Assoziationen.
Und natürlich diese ganz beherrschte Patchouli-Note,
bei der er unwillkürlich an Burt Bacharach denken musste.
Komischerweise auch an Lou Reed.
Er genoss die Trambahnfahrt fast. Jedenfalls war sie
schneller als ein Taxi um die Uhrzeit. Und sie gab ihm ein
gutes Gefühl, sauberer kam er sich vor.
Er hatte gerade eine ganze Stunde mit seinem Lektor
gesprochen, in der Bar der Kronenhalle.
Ein Gläschen Yvorne Grand Cru hatte er getrunken
und diese unvermeidlichen Nüsschen geknabbert,
die sie einem dort zu allem dazu gaben.
Am Ende wurde er das Gefühl nicht los, dass dieser
Mann auch zu den Leuten gehörte, die eben einfach
nicht alles verstanden.
Wenn er das mit den Filmrechten bei diesem Typ in der
Fröhlichstraße erledigt hätte, würde er wieder zurück
nach Deutschland fahren. Und zwar ohne vorher noch
mal nach Bern zu fahren, um bei Kornfeld womöglich
einen günstigen Expressionisten oder einen Bissier
zu ersteigern.
Die Finanzlage war im Moment sowieso nicht völlig
unentspannt. Er könnte ja vielleicht in zwei Monaten
bei Christie’s zuschlagen, wenn alles wieder stabiler war.
Er betrachtete seine gut eingetragenen Pferdeleder-
schuhe. Es ärgerte ihn, dass die gewachsten Schnür-
senkel schon wieder fast hin waren. Bekam man kaum
irgendwo in exakt dieser Farbe und bei Alden dauerte
es ewig, bis mal eine Bestellung eintrudelte. Fast ein
Grund, nur noch Monks zu tragen.
An der Haltestelle Feldeggstraße stieg eine ältere Frau
ein und setzte sich ihm gegenüber ans Fenster. Sie war
sehr einfach gekleidet und hielt einen Korb auf dem Schoß,
aus dem Salat und Radieschen herausschauten.
Kurz versuchte er sich vorzustellen, wie sie wohl seinen
neuen Roman finden würden. Würde sie irgendetwas darin
nachvollziehen können? Oder vielleicht ein paar Details
zu goutieren in der Lage sein, die sein Held, der ein
Connaisseur und Lebenskünstler reinsten Wassers war,
so schätzte? Wohl kaum.
Vielleicht, dachte er mit einem Mal, vielleicht müsste man
die Verfilmung etwas – nun ja – leutseliger machen?
Die ältere Frau beugte sich jetzt leicht zu ihm vor.
„Ein feiner Duft ist das…“, sagte sie und wedelte sich mit
einer Hand etwas Luft aus seiner Richtung zu.
Verwundert betrachtete er sie näher. Sie war recht ärmlich
gekleidet, ihr graublaues, gepunktetes Kleid sah eher wie
eine Art Kittelschürze aus.
„Wenn Sie erlauben, sage ich Ihnen, was sie an diesem
Parfum mögen… Wie ich sie einschätze, gefällt Ihnen der
Vintage-Charakter, den es quasi gleich in Neu mitbringt.“
Jetzt war er hellwach. Natürlich hatte sie recht – aber wie
konnte sie das wissen?
„Ist ja auch kein Wunder. Dieses Parfum ist zwar durchaus
eigenständig, aber es ist doch inspiriert von genau den
Klassikern aus den 80ern die Leute wie Sie mögen. Chanel
Pour Monsieur Eau Concentrèe, Tiffany for Men, Heritage,
vielleicht auch Bois du Portugal, das alte Rive Gauche und
etliche mehr. Es hat die Kraft dieser Duft-Ära und spielt
doch seine eigene Melodie, nicht wahr?“
Er nickte nur. Ziemlich baff.
„Ein Semi-Oriental Fougère mit einigen Chypre-Genen,
so kann man doch sagen, finde ich. Klassische, fast schon
klischeehaft-maskuline Noten, die aber cremig und zart
pudrig konterkariert werden, auch von einer gewissen
Süße. Das ist das eine…“
„Sie haben recht… sehr recht… und das andere?“
„Da ist noch vieles. Aber bemerkenswert ist einfach die
ganze Hochwertigkeit der verschiedenen Bestandteile.
Fast ein bisschen beschämend für andere Marken, wenn
man mal bedenkt, wie gern die Ifra als Grund angeführt
wird für Veränderungen im Duftcharakter. New York
Intense riecht, als ob’s die Ifra nie gegeben hätte…“
„Da habe ich noch nie drüber nachgedacht…“
„Kann man aber doch, wenn man will…“
„Ja, klar… Und der Namen – warum gerade New York?“
Er sprach jetzt mit ihr wie mit jemand, der vielleicht alle
Fragen beantworten könnte.
„Nun ja, Namen… Aber es gibt schon Bezüge, wenn man
mal an den Charakter der Stadt denkt… Gleichzeitig die
Keimzelle der vereinigten Staaten, wenn man so will,
also historische Tiefe. Und dabei eine sehr moderne,
immer noch irgendwie innovativ wirkende Weltstadt,
egal, was da wahr oder nur Image-Pflege ist. Und, auch
wenn das ausgeleiert klingen mag – ein Schmelztiegel
der Nationen, Kulturen, Lebensentwürfe. So wie der
Duft unterschiedlichste Noten verschmilzt…
„Gut, ja, da bin ich bei Ihnen…“
„Aber ich muss ja raus…“
Sie stand auf und ging zur Tür, die gerade aufklappte.
Jetzt erst bemerkte er – er war längst an seiner Halte-
stelle vorbeigefahren und näherte sich der Endstation
Bahnhof Tiefenbrunn.
Er beschloss, einfach sitzen zu bleiben und auf der
Rückfahrt diesmal rechtzeitig auszusteigen.
Der leicht süße, irgendwie schwelgerische und klar
nostalgisch stimmende Drydown umgab ihn jetzt.
Vanille brachte etwas Tröstliches mit ins Spiel, etwas,
das kindliche Nörgeltöne genauso gut wie Eichenmoos-
Rauheiten abfedern konnte.
Womöglich sogar Überheblichkeit, Besserwisserei.
Paris hätte sie’s jedenfalls nicht nennen können, das wäre
eher ein Name für Bel Ami. Berlin auch nicht, London
genauso wenig, denn trotz Lavendel war hier zu wenig
wirklich britisch.
Nein, New York – das kam schon ganz gut hin.
Aber wer war diese Dame nur gewesen? Er bemerkte
mit einem Mal, dass er sie in seiner Erinnerung bereits
als Dame bezeichnete.
Irgendwie kam sie ihm wie eine Figur aus einem seiner
Romane vor. Zugleich wurde er das Gefühl nicht los,
selbst ziemlich fiktional zu sein.
Obwohl er zu jung dafür war, gefiel es ihm bisweilen,
sich mit Woody Allen zu vergleichen.
Noch ein New York-Bezug, oder nicht?
Die Bahn quietschte laut, als sie in die Kurve fuhr, es klang
fast, als wolle sie liebgewordene Klischees zerschneiden.
Er erheischte einen Blick über den See, das Wasser war klar
und lila-bläulich schimmernd, an einigen Stellen aber,
wo die Wolken tiefer hinein zu sacken schienen, wirkte es
merkwürdig grün-olivig, wie eine Suppe, die irgendjemand
auslöffeln musste.