45. "Ich fahre zum Betteln in die Nachbarstadt, denn ich schäme mich so."
Die heutige Duftbegegnung geht mir ganz besonders nah.
Trubelige Haupteinkaufstraße einer überfüllten Großstadt. Inmitten des Gewusels strahlt mich das sonnengelbe T-Shirt eines vor einem Geldkörbchen sitzenden hageren Mannes so freundlich an, dass ich trotz voller Taschen und Erschöpfung nach Arbeit, Schwimmen und Einkauf hingehe:
- "Guten Tag, sind Sie neu hier? Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Mögen Sie einen Duft haben?"
- "Normalerweise nehme ich nur Seife" - er sprüht und schnuppert und lächelt - "aber der ist toll, Vanille mag ich sehr!"
Ich freue mich über seine feine Nase und darüber, dass der Silver Moon Perfume endlich seinen eigentlichen Besitzer gefunden hat. "Aber den haben Sie sich doch bestimmt für teures Geld selbst gekauft?" (Was für ein edler Gedanke! So etwas sagt wahrscheinlich nur jemand, der den Wert von Geld zu schätzen weiß, schießt es mir durch den Kopf.) Es rührt mich sehr und ich erzähle ihm von Parfumo und den großzügigen Duftspenden zum Weiterverschenken.
Von ihm erfahre ich, dass er aus der Nachbarstadt kommt, dort aber nicht betteln kann, da ihn dort so viele Kunden kennen und es ihm peinlich ist. Er ist Anfang 60 und beherzter Handwerker von Beruf ("nie krank, mein ganzes Leben habe ich gearbeitet"). Über 20 Jahre war er pünktlich zahlender Mieter, vor drei Jahren hat der Vermietersohn den Wohnblock geerbt und Schritt für Schritt allen sonstigen Wohnparteien gekündigt und verkauft. "Und ich Idiot habe mich gefreut, dass ich als längster Mieter drinbleiben kann." Doch zum Schluss der große Paukenschlag: "Kündigung wegen Eigenbedarf" - der 15-jährige Sohn bräuchte eine Zweitwohnung, könnte so besser zum Sport kommen.
Seit drei Monaten lebt der Herr also im Keller von Bekannten und nutzt das Deutschlandticket, um sich in der benachbarten Großstadt etwas dazuzuverdienen. "Ich spare für die Kaution, neue Küche und alles, was da auf mich zukommt... - wenn ich denn mal was finden sollte... Heute habe ich 45€ verdient, Schritt für Schritt, das wird schon, ich lasse mich nicht unterkriegen."
Seine Geschichte wühlt mich besonders auf und wir reden noch länger über Wohnen als Luxus unserer Zeit, Stadtentwicklung, Bürokratie etc. Er freut sich, dass ich seine Geschichte samt Foto veröffentlichen möchte: "... damit auch andere sehen, was da los ist, ich bin ja kein Einzelfall." In der Zwischenzeit werfen erfreulich viele Münzen in sein Körbchen, eine englische Familie bringt ihm eine Sushiplatte. Zum Abschied drücke auch ich ihm etwas in die Hand und muss lachen, als er mich angrinst: "Bleiben Sie doch noch etwas, die Leute geben mehr, wenn Sie bei mir stehen, vielleicht liegt das ja an Ihrem Duft."
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PS: Ein paar Angaben habe ich zwecks Anonymisierung verändert.