Yharnam79
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vor 4 Jahren - 27.11.2019
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Das Spiel mit der Angst

Heute öffne ich mal eine ganz andere Art von Büchse mit meinem gleich folgenden Blogeintrag.

Seit Ende meines Studiums und damit seit gut einem Jahrzehnt, schleppe ich eine Angst.- und Panikstörung mit mir herum. Angefangen hat alles, als in bestimmten Supermärkten plötzlich das Licht zu flackern anfing und mir schlecht wurde. Irgendwann so schlecht, dass ich das Gefühl hatte, ich kippe gleich um. Also erstmal Vermeidung des betreffenden Ladens und stetig zunehmend der betreffenden Läden. Als nächstes kam dann die U-Bahn dran und dann folgten schleichend immer mehr Orte. Monatelang.

Gefühlte 20 Ärzte später war es eines Abends so schlimm, dass ich wusste, ich würde nun sterben müssen. Der Notarzt war zu meinem großen Glück, plietsch genug, sich Zeit zu nehmen und mir dringend einen Besuch beim Psychiater und eine Therapie anzuraten: "Ich kann ihnen garantieren, sie verlassen das Haus sonst in einem halben Jahr gar nicht mehr...". Das war ein kleiner Schock und gleichzeitig eine Erleichterung, weil endlich nichts körperliches mehr ausgesschlossen wurde sondern ich der Antwort darauf näher kam, was mit mir nicht stimmte. Es war sogar eine Erleichterung, 'dass' etwas mit mir nicht stimmte. Endlich war da jemand, der mir glaubte,nein, der mich ernst nahm.

Zeitsprung und damit kurz und knapp: Therapie ist durch und ich muss zwar nach wie vor Medikamente nehmen, um die Angststörung und die Panikattacken zu unterdrücken oder besser unter Kontrolle zu halten aber ich lebe den Großteil der Zeit nun seit Jahren angstfrei. Bis auf bestimmte Zeiten im Jahr, die ich aber ganz gut aushalten kann. Kleinere Panikattacken kommen zusätzlich auch so mal zwischendurch aber die sind auszuhalten und in der Regel auch fix wieder weg.

Wenn so eine Angstattacke kommt, sind die meisten Geräusche und Licht eine einzige Qual. Auch Gerüche.

Mein Duftempfinden wurde seit Beginn der Angststörung bzw. in den präsenten Phasen ebenso beeinflusst. Trug ich Parfum und die Ängste kamen, wurde der Duft plötzlich so präsent und unangenehm, dass ich das Gefühl hatte, von ihm erdrückt zu werden.Die Kehle schnürte sich richtiggehend zu.

Erst viel, viel später bemerkte ich, dass Düfte in der Lage waren, mich in diesen Phasen auch positiv zu triggern. Ein Trial-and-Error-Spiel, denn die sonstigen Lieblingsdüfte waren in Angstphasen eher Feind als Freund. Neben dem erdrückenden Gefühl kam nun auch noch Übelkeit bis hin zum Brechreiz dazu. Für einen Menschen mit dem Hang zur Leidenschaft zu Düften echt beschissen. Ich kann, ohne mich zu schämen sagen, ich tat mir selbst verdammt leid.

Durch eine schlichten Zufall kam mir die Erleuchtung. Die Angst tobte sich gerade in ihren obligatorischen zwei-drei Tagen an mir aus. Die Klamotten fühlten sich an wie eine Eisenrüstung, als ich vor lauter Verzweiflung und aus drastischer Magelung an Ablenkung (manchmal funzt Sitcom schauen, manchmal Musik machen, manchmal Ruhe und Dunkelheit, manchmal funzt nix) dachte: "ich brauche jetzt irgendwas belebendes. Irgendwas krasses, was ein anderes Gefühl herbeizwingt; zumindest kurz". Kalte Dusche? Mit Schwindel nicht die allerbeste Idee. Was essen? Never! Irgendwas sprühen? Das schlimmste was passieren könnte wäre der auch schon bekannte Würgereiz. Da mir der letzte Gedanke in dem Moment die einzige greifbare Lösung schien, (mal abgesehen vom Einwerfen von Ruhigstellern) versuchte ich mir vor dem Regal vorzustellen, was für eine Art Duft wohl erträglich und im besten Falle ablenkend sein könnte. Ich wollte einfach kurz irgendetwas anderes fühlen als Todesangst.

Obwohl das wahrscheinlich nur in diesem speziellen Moment funktionierte und eigentlich nichts zur Sache tut, die Wahl fiel auf Bloody Wood. Aufgesprüht und schonmal vorsichtshalber unterwegs in Richtung Klo (es konnte ja gut sein, dass Kotzen oder zumindest Abwaschen bevorstand).

Aber es passierte nichts Unangenehmes oder Schlimmes. Es war sogar ganz nett und wurde immer netter. Ich war kurzzeitig sogar total auf den Duft und fokussiert und "wach". Ein klitzekleines bisschen so, als ob man mir gerade eine Ohrfeige gegeben hätte. Eine, die nicht wehtut.

Das ganze hielt nicht lange an und die Angst war danach nicht weg. Aber - und das war die eigentliche Erleuchtung - ich war wieder mehr im Jetzt und Hier. Ich konnte ein paar Minuten verschnaufen und mir bewusst machen, dass die Angstgefühle (wie immer) nur Gefühle sind und der ganze Scheiß auch wieder vorbeigeht - auch wie immer. Wer jemals eine Angst- oder Panikattacke hatte oder gar selbst an dieser Störung zu knabbern hat weiß, wie wertvoll sich das in dem Moment angefühlt hat.

Mittlerweile kann ich sagen: ich lebe gut mit der Störung. Sie gehört halt dazu. Sie schränkt mich mal ein paar Tage ein, knockt mich auch ab und zu mal aus aber ich weiß, dass sie mich nicht umbringt. Daher habe ich größtenteils mit ihr ausgesöhnt.

Da, wie bereits erwähnt, die Angststörung nur medikamentös eingedämmt bzw. größtenteils blockiert ist, jedoch trotzdem zwei-dreimal im Jahr auch ganz schön wütet, hatte ich in den letzten Jahren genug Gelegenheiten, das Ganze zu wiederholen. Das abgefahrene ist, es funktioniert dann immer nur ein bestimmter Duft, während mir allein bei der Vortsellung aller anderen Düfte, die ich sonst so mag, schlichtweg kotzübel wird. Funktioniert haben schon Bloody Wood, Succus, Patchouli Absolu, Trannosaurus Rex und Bat.

Es gibt bei den Düften irgendwie auch keinerlei Zusammenhänge, so dass ich sagen könnte: " Düfte mit Lavendel gehen dann immer...". An der Stelle: witzig, dass Lavendel mir als Beispiel eingefallen ist, denn Lavendel (es gibt ja tausende Lavendel-Beruhigungssprays) kann ich bei Angstphasen so gar nicht haben. Ist sogar ein recht sicherer Würgereizkandidat. Sonst mag ich Lavendel übrigens.

Der einzige augenscheinliche Zusammenhang zwischen den Düften mag darin bestehen, dass all diese Düfte wohl zu derberen Kategorie gehören.

Witzigerweise gibt es aber auch Düfte in meiner Sammlung, die ich ansonsten liebe, die bei akuter Angst/Panik aber allein schon beim Suchenden Blick durchs Regal Übelkeit hervorrufen. Bei denen kann ich eigentlich mit Sicherheit sagen, die werden niemals "panikgeeignet" sein - warum auch immer. Der Vollständigkeit halber handelt es sich hierbei um Marienbad, Vert d'Encens, Vert des Bois, Moth und 03. April 1968.


Abseits der Art von Diskussionen, die man sonst über Düfte führt, empfand ich diese Erfahrung als teilenswert. Teilenswert, weil sie Düfte mal mit einem völlig anderen Thema in Verbindung bringt. Teilenswert, weil sie eventuell irgendwer liest, der dann weiß, dass noch andere dieses Päckchen mit sich herumschleppen. Oder zumindest teilenswert, weil unterhaltsam zu lesen.


Ich möchte hier nicht die These aufstellen, dass Düfte (hier gemeint: Parfums) bei Angst- und Panikstörungen helfen können. Ich möchte nur meine Erfahrung beschreiben und teilen. Auch wäre das Wort "helfen" zu viel gesagt. Andererseits wäre jedes andere Wort zu wenig. Ein Duft verhindert oder verbessert weder die Angst, noch ist sie danach weg. Aber er verschafft mir eine kurzzeitige Verschnaufpause und ein kurzzeitig besserers Gefühl als das, gleich tot umzufallen. Das ist doch was!

Danke fürs Lesen.

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