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Top Rezension
Edmond
Zum Glück hatte sie noch fast eine Stunde, bis der Film anfing.
Sie waren direkt vor dem Kino verabredet und sie wollte auf jeden Fall
als Erste da sein. Er sollte nicht auf sie warten müssen. Diese Spielchen
nach dem Motto „Männer sollst du immer ein bisschen warten lassen“
waren doch einfach nur peinlich.
Sie beschloss, einen kleinen Umweg durch den Park zu machen.
Es war ja noch reichlich Zeit und sie würde sich noch ein bisschen
auf eine Bank in die Spätnachmittagssonne setzen.
Allzu viel Schlaf hatte sie die letzte Nacht nicht gehabt.
Gleich hinter dem Apollobrunnen fand sie eine Bank, die ihr gefiel.
Der Blick ging weit über die Rasenflächen bis zu den Baumgruppen,
hinter denen die Silhouette der Stadt im Dunst des frühen September-
abends lag.
Sie schloss die Augen und genoss die letzten, sanftwarmen
Sonnenstrahlen. So lieb fühlten sie sich an. Sie spürte die Müdigkeit,
die über sie kam wie eine weiche Decke.
Ihre Gedanken wurden weit und dunstig.
Dann hörte sie mit einem Male Schritte auf dem Kiesweg.
Sie öffnete die Augen.
Ein älterer Herr mit Spazierstock kam des Wegs, begleitet von einem
kleinen, struppigen Hund.
Aber bevor sie ihn noch genauer sah, roch sie ihn.
Es gab keinen Zweifel – er trug Eau Sauvage. Sie wunderte sich
überhaupt nicht, dass ihre Nase so sensibel war, obwohl sie doch wusste,
dass der Duft eigentlich nicht sehr weit ausstrahlte.
Sie kannte das Parfum gut. Sie hatte es sogar vor ein paar Jahren mal
einen Flakon lang getragen, aber dann irgendwie vergessen.
In diesem Moment kam ihr das geradezu unbegreiflich vor. Der ältere
Herr stand jetzt direkt vor ihr, irgendwie ging von ihm das ganze
Orchester des Duftes zugleich aus. Die frische, natürlich-zitronige,-
gelbe Eröffnung, diese wunderbar grüne Tautropfen-Krautigkeit,
das dahinter auftauchende holzig-Moosige mit einer fast weh-
mütigen trockenen, ganz zarten Bitternote. Alles zusammen als ein
Klang, der vollkommen zeitlos wirkte und zugleich beruhigt und
froh machte.
Der Herr schwieg und lächelte sie nur an.
Sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
„Sie…Sie riechen so gut!“, brachte sie schließlich heraus.
„Ich wollte mit diesem Duft nicht viel – nur etwas ausdrücken,
das, wie ich fand, zu sehr vernachlässigt wird…“, sagte der Herr.
„Also Sie, Sie haben…“
„Nennen Sie mich einfach Edmond, mein Liebe. Was ich wirklich
ausdrücken wollte, das war im Grunde die Einfachheit. Nur in ihr
kann man mit etwas Glück das vielleicht wertvollste finden –
die Poesie. Denn die ist ein wenig scheu und vor allem – wild.
Très sauvage.“
„Ich verstehe…“
„Seit ich auf der anderen Seite bin, haben sie viel daran herum-
gedoktert. Aber irgendwie ist wie durch ein Wunder das Geheimnis
nie ganz verloren gegangen…“
„Aber… wieso können Sie denn so einfach herumspazieren, wenn
Sie doch eigentlich…“ Sie spürte sofort, dass Sie im Begriff war,
etwas Falsches zu sagen.
„Ich bin einfach ein etwas seltsamer Mann, meine Liebe. Ich kann
ein paar sonderbare Dinge… Sehen sie, wenn ich jetzt mit den
Fingern schnippe, werden alle Menschen überall auf der Welt
für einen Moment völlig glücklich sein.“
Er schnippte mit den Fingern.
Sie atmete tief durch.
„Schon vorbei…“, sagte Edmond. „Ich bin jetzt ein wenig müde.
Aber Sie haben vielleicht gemerkt, dass Sie gerade von den einfachen
Dingen etwas lernen können… zum Beispiel von der Bank, auf der
Sie sitzen..“
Sie strich mit der Hand über das weiß lackierte Holz.
„Reich willst du sein?“, sagte die Bank. „Warum bist du es nicht?“
Edmond lächelte. „Ich muss jetzt weiter…“
Da kam auch schon der kleine struppige Hund aus den Büschen
und zupfte an seinen Hosenbeinen.
„Ist ja gut“, sagte Edmond und klopfte ihm das Fell.
Dann griff er in seine Manteltasche und nahm etwas heraus.
Über ihrem Kopf öffnete er seine Hand und ließ viele fein
geraspelte Zitronenschalenstückckchen auf sie herabrieseln.
„Voila…“, sagte er.
Dann machte er sich wieder auf den Weg.
Nach ein paar Metern drehte er sich noch einmal um.
„Denken sie daran“, rief er, „ewig währt am längsten.“
Sie streckte sich wohlig - und wachte auf. Die Sonnenwärme und
die Müdigkeit waren einfach zu stark gewesen.
Plötzlich fiel ihr die Verabredung wieder ein. Sie blickte auf ihre
Armbanduhr – es war kurz vor halb acht.
Im Eilschritt machte sie sich davon – laufen wollte sie nicht.
Als sie am Kino ankam, stand er vor den Schaukästen und sah sich die
die Bilder an.
Sie tippte ihm zart auf die Schulter.
„Das tut mir so leid… wartest du schon lange…?“
„Ach was, eine Minute vielleicht…“
„Ich war eigentlich super früh, aber dann…“, sagte sie, dann bin ich…“
Er unterbrach sie. „Was hast du denn da…?“
Er griff ihr in die Haare und nahm etwas heraus.
„Komische kleine gelbe Dinger…“, sagte er und schnupperte daran.
„Riechen nach Zitrone.“
Sie waren direkt vor dem Kino verabredet und sie wollte auf jeden Fall
als Erste da sein. Er sollte nicht auf sie warten müssen. Diese Spielchen
nach dem Motto „Männer sollst du immer ein bisschen warten lassen“
waren doch einfach nur peinlich.
Sie beschloss, einen kleinen Umweg durch den Park zu machen.
Es war ja noch reichlich Zeit und sie würde sich noch ein bisschen
auf eine Bank in die Spätnachmittagssonne setzen.
Allzu viel Schlaf hatte sie die letzte Nacht nicht gehabt.
Gleich hinter dem Apollobrunnen fand sie eine Bank, die ihr gefiel.
Der Blick ging weit über die Rasenflächen bis zu den Baumgruppen,
hinter denen die Silhouette der Stadt im Dunst des frühen September-
abends lag.
Sie schloss die Augen und genoss die letzten, sanftwarmen
Sonnenstrahlen. So lieb fühlten sie sich an. Sie spürte die Müdigkeit,
die über sie kam wie eine weiche Decke.
Ihre Gedanken wurden weit und dunstig.
Dann hörte sie mit einem Male Schritte auf dem Kiesweg.
Sie öffnete die Augen.
Ein älterer Herr mit Spazierstock kam des Wegs, begleitet von einem
kleinen, struppigen Hund.
Aber bevor sie ihn noch genauer sah, roch sie ihn.
Es gab keinen Zweifel – er trug Eau Sauvage. Sie wunderte sich
überhaupt nicht, dass ihre Nase so sensibel war, obwohl sie doch wusste,
dass der Duft eigentlich nicht sehr weit ausstrahlte.
Sie kannte das Parfum gut. Sie hatte es sogar vor ein paar Jahren mal
einen Flakon lang getragen, aber dann irgendwie vergessen.
In diesem Moment kam ihr das geradezu unbegreiflich vor. Der ältere
Herr stand jetzt direkt vor ihr, irgendwie ging von ihm das ganze
Orchester des Duftes zugleich aus. Die frische, natürlich-zitronige,-
gelbe Eröffnung, diese wunderbar grüne Tautropfen-Krautigkeit,
das dahinter auftauchende holzig-Moosige mit einer fast weh-
mütigen trockenen, ganz zarten Bitternote. Alles zusammen als ein
Klang, der vollkommen zeitlos wirkte und zugleich beruhigt und
froh machte.
Der Herr schwieg und lächelte sie nur an.
Sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
„Sie…Sie riechen so gut!“, brachte sie schließlich heraus.
„Ich wollte mit diesem Duft nicht viel – nur etwas ausdrücken,
das, wie ich fand, zu sehr vernachlässigt wird…“, sagte der Herr.
„Also Sie, Sie haben…“
„Nennen Sie mich einfach Edmond, mein Liebe. Was ich wirklich
ausdrücken wollte, das war im Grunde die Einfachheit. Nur in ihr
kann man mit etwas Glück das vielleicht wertvollste finden –
die Poesie. Denn die ist ein wenig scheu und vor allem – wild.
Très sauvage.“
„Ich verstehe…“
„Seit ich auf der anderen Seite bin, haben sie viel daran herum-
gedoktert. Aber irgendwie ist wie durch ein Wunder das Geheimnis
nie ganz verloren gegangen…“
„Aber… wieso können Sie denn so einfach herumspazieren, wenn
Sie doch eigentlich…“ Sie spürte sofort, dass Sie im Begriff war,
etwas Falsches zu sagen.
„Ich bin einfach ein etwas seltsamer Mann, meine Liebe. Ich kann
ein paar sonderbare Dinge… Sehen sie, wenn ich jetzt mit den
Fingern schnippe, werden alle Menschen überall auf der Welt
für einen Moment völlig glücklich sein.“
Er schnippte mit den Fingern.
Sie atmete tief durch.
„Schon vorbei…“, sagte Edmond. „Ich bin jetzt ein wenig müde.
Aber Sie haben vielleicht gemerkt, dass Sie gerade von den einfachen
Dingen etwas lernen können… zum Beispiel von der Bank, auf der
Sie sitzen..“
Sie strich mit der Hand über das weiß lackierte Holz.
„Reich willst du sein?“, sagte die Bank. „Warum bist du es nicht?“
Edmond lächelte. „Ich muss jetzt weiter…“
Da kam auch schon der kleine struppige Hund aus den Büschen
und zupfte an seinen Hosenbeinen.
„Ist ja gut“, sagte Edmond und klopfte ihm das Fell.
Dann griff er in seine Manteltasche und nahm etwas heraus.
Über ihrem Kopf öffnete er seine Hand und ließ viele fein
geraspelte Zitronenschalenstückckchen auf sie herabrieseln.
„Voila…“, sagte er.
Dann machte er sich wieder auf den Weg.
Nach ein paar Metern drehte er sich noch einmal um.
„Denken sie daran“, rief er, „ewig währt am längsten.“
Sie streckte sich wohlig - und wachte auf. Die Sonnenwärme und
die Müdigkeit waren einfach zu stark gewesen.
Plötzlich fiel ihr die Verabredung wieder ein. Sie blickte auf ihre
Armbanduhr – es war kurz vor halb acht.
Im Eilschritt machte sie sich davon – laufen wollte sie nicht.
Als sie am Kino ankam, stand er vor den Schaukästen und sah sich die
die Bilder an.
Sie tippte ihm zart auf die Schulter.
„Das tut mir so leid… wartest du schon lange…?“
„Ach was, eine Minute vielleicht…“
„Ich war eigentlich super früh, aber dann…“, sagte sie, dann bin ich…“
Er unterbrach sie. „Was hast du denn da…?“
Er griff ihr in die Haare und nahm etwas heraus.
„Komische kleine gelbe Dinger…“, sagte er und schnupperte daran.
„Riechen nach Zitrone.“
22 Antworten
Fittleworth vor 3 Jahren
Spannender Duftkommentar, der sich wohltuend abhebt vom üblichen Einerlei.
MonsieurTest vor 4 Jahren
1
Klingt so einfach, ist es freilich nicht; wirkt aber genial erfrischend: der Duft wie dein kongeniales Geschichten dazu.
Ttfortwo vor 6 Jahren
1
Wie konnte ich dieses kleine Kunst-Stückchen übersehen haben? Ich mag Deine poetischen Miniaturen.
MTS vor 6 Jahren
Danke für die schöne Kurzreise.
Aolani vor 6 Jahren
Wunderbar feinfühlig und so schön geschrieben! Ich will auch Zitronenschalenstückchen im Haar!
PonyHütchen vor 6 Jahren
1
Was für ein Wunderschöner Kommentar!
Verbena vor 6 Jahren
Oh, was habe ich den Kommentar genossen! Schlimm aber, dass ich den Duft immer noch nicht kenne.
Renata vor 6 Jahren
Ein ganz herrlicher Kommentar, den ich noch stundenlang weiterlesen könnte, einfach toll. Pokal für Dich!!!
Edda32 vor 6 Jahren
So geschickt die Duftbeschreibung in diese Ministory eingebettet! Gerne wüsste man mehr über 'sie' oder über Edmonds weitere Missionen. Atmosphäre stimmt und auch die Zitronenzestchen Humor stieben unauffällig durch die Geschichte. Schnipp! --Pokal!
Stulle vor 6 Jahren
Sehr, sehr fein jeschriehm :)
Jacko vor 6 Jahren
Auch wenn das EdT (noch) nicht ganz mein Begehr ist, werde ich es nun mal wieder testen. Well done!
0815abc vor 6 Jahren
Eine schöne Reise. DANKE!
Sonnenwende vor 6 Jahren
Was hast du denn da, fragte auch ich mich gerade und spürte die Sonnenwärme in meinem Gesicht, obwohl es dunkel war. Zauberhaft dein Kommentar.
FlirtyFlower vor 6 Jahren
Wie immer sehr schön geschrieben =D Pokal für dich
Micscent vor 6 Jahren
Wunderbar. Mach ein Buch daraus. Jetzt werd ich Eau Sauvage doch noch einmal eine Chance geben. VG Michael
FvSpee vor 6 Jahren
Der Grund, warum ich ungerne solche Ultraklassiker wie diesen kommentiere ist, dass ich nicht in der Lage bin, solche literarischen Kleinode zu verfassen, die wohl alleine wirklich in der Lage sind, diese Düfte angemessen zu würdigen.
Pollita vor 6 Jahren
Wunderschön geschrieben :)
Parma vor 6 Jahren
Wunderbare Verknüpfung von einem der schönsten Düfte mit einer schelmisch philosophischen (Traum-)Geschichte. Höchster Lesegenuss! Roudnitskas Geheimnis-Pokal :)
Helena1411 vor 6 Jahren
Wundervoll, zwischen Wachen und Träumen habe ich gelesen, mir war, als hätte auch ich ein paar Zesten im Haar...ich rieche die Zitrone. Wunderbar. Und wundersam.
Yatagan vor 6 Jahren
Was für eine schöne Würdigung für den schönsten und klarsten Herrenduft aller Zeiten. Da meine Frau hier auch angemeldet ist, besteht die Chance, dass sie liest, dass es Frauen gibt, die Männer wenigstens nicht warten lassen wollen (auch wenn es dann doch nicht glückt). :D
SchatzSucher vor 6 Jahren
So eine be- und verzaubernde Geschichte, die mich für einen Augenblick ganz vergessen ließ, daß ich mit Eau Sauvage doch nie so gut zurechtkam... Dennoch erkenne ich an, welch Meilenstein er ist und zu Recht einen festen Platz in unserer Duftwelt hat. Einen würdigeren Rahmen als Du es getan hast, kann man ihm nicht verleihen. Chapeau!
Caracta vor 6 Jahren
Abends sprühe ich einmal über mein Bett und fühle mich geborgen. Ich kann nicht mehr ohne ihn einschlafen...

