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vor 6 Jahren - 22.12.2017
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​Objektivität: Von Zollstöcken aus Gummiband

Ich war knapp zwei Wochen mit einem grippalen Infekt krank und, wie es mit manchen Krankheiten so ist, plötzlich ist Kaffee eklig, jedes Milchprodukt löst Widerwillen aus, nur Obst geht und Tee und Knäckebrot und komischerweise Eier.

Damit nicht genug, meine Abneigung erstreckte sich auch auf jegliches Parfum. So war ich also seit langer Zeit einmal wieder wirklich 12 ganze Tage unbeduftet, nichtmal mein Duschgel konnte ich riechen, so verstopft war die Nase.

Nun erhole ich mich langsam wieder und habe seit gestern sogar wieder Lust auf einen Duft, aber irgendwie scheine ich plötzlich wie hypersensibilisiert zu sein. Nicht nur das, meine Riechzellen sind wie verstellt.

Genau wie ich plötzlich jede Schokolade, außer der einen aus der Schweiz, die ich zufällig gerade habe, so dermaßen süß und unschokoladig finde, dass ich mich frage, wie ich sie jemals mögen konnte; so wie ich den Wurstaufschnitt so merkwürdig gewürzt finde, dass ich mich frage, ob er schlecht geworden ist, obwohl er frisch ist; so wie ich mich frage, wieso ich vor nur wenigen Tagen locker drei Becher schwarzen Kaffee täglich trinken konnte, freiwillig (!); so frage ich mich, wieso ich Black Jade von Lubin, der nach mehreren Tests schon monatelang auf meiner Wunschliste ist, überhaupt auf die Liste setzen konnte. Er kam mir heute ungeheuer glanzlos und altbacken vor. Plötzlich fand ich bei Black Jade, von dem ich just vor meiner Erkrankung eine feine Abfüllung bekam, die ich auch schon begeistert ausprobiert hatte, dass das Patchouli schlaff und reizlos den Duft dominiere. Ich trug ihn heute und fand plötzlich, er transportiere eine deprimierende Stimmung von Althippies, die in der Zeit stehengeblieben sind, freudlos und ziellos. Verloren der ganze Enthusiasmus der Flowerpower-Zeit, der Make-love-not-war-Devise, und der Glaube daran, selbst einen Teil der Zukunft so erschaffen zu können, wie sie einem vorschwebt.

Wieso empfinde ich den Duft plötzlich so anders? Es ist derselbe wie vor 12 Tagen, aus demselben Röhrchen. Da fand ich ihn noch herrlich würzig, leicht holzig, angenehm warm und auf dezente Weise weiblich; Patchouli empfand ich als im Hintergrund, und ich hatte fröhliche Reminiszenzen an früher, glückliche Hippie-Assoziationen, seien es nun Althippies oder neue.

Nun ja, es hätte ja Zufall sein können. Aber es ging weiter:

Heute Abend vor meinem Duftschrank einen Duft für die Nacht suchend, konnte ich mich nicht entscheiden, roch halbherzig an bestimmt 6 Sprühköpfen von Düften, die ich normalerweise sehr schätze, aber sie stießen mich alle ab. Als ich mich dann für zwei Sprüher aus einer Abfüllung Nin Shar entschied, ein Duft der nur wegen seines horrenden Preises noch nicht auf meiner Wunschliste ist, wusch ich ihn nach wenigen Minuten wieder ab. Ich fand, er roch nach vergorenen Früchten. Und mir war es in den letzten Tagen zu schlecht gegangen, um mir die Nacht mit einem falschen Duft zu verderben.

Also entschied ich mich für Anglomania. Kaum gesprüht, nahm ich ihn als so kardamomlastig wahr, wie nie zuvor und - wusch ihn auch wieder ab.

Ich griff dann zu Angel Étoile des Rêves. Aber ihr ahnt es schon, auch der gefiel mir plötzlich nicht mehr. Ist er doch bei weitem der feinste und edelste, der weichste der ganzen Angel-Reihe, auch noch viel weicher als Angel Muse, fand ich plötzlich, dass das Stechende seines Angel-Urvaters, den ich verabscheue, auch in Angel Étoile des Rêves zu erahnen war.

Tja. Was kann ich denn überhaupt noch für Düfte ab?

Girl of Now hatte ich gestern aufgesprüht, ich trug ihn mit Freuden und er kam mir auch unverändert vor.

Also, zumindest diesen einen Duft kann ich noch ab. Einen von 11. Das finde ich nun aber erschreckend dürftig.

Vielleicht gehen auch noch die beiden davor aus meiner Kommentarreihe "Heimliche Stars", Ambre Nuit und Eau de Rochas Fraîche. Das vermute ich, weil sie die ganzen Tage der Krankheit auf dem Wohnzimmertisch standen, wo ich sie vorübergehend abgestellt hatte, nachdem ich die Kommentare geschrieben hatte. Und als ich sie gestern endlich wegpackte, nahm ich noch einmal eine Nase von ihnen, bevor ich mich dann für Girl of Now entschied. Aber wer weiß, ich roch nur am Sprühkopf. Was wäre geschehen, wenn ich sie aufgesprüht hätte? Vielleicht hätte ich dann doch irgendetwas auch in diesen Düften plötzlich störend gefunden.

Warum widme ich diesem Phänomen einen Blog?

Ganz einfach: Natürlich wusste ich, dass Geruchswahrnehmung stimmungsabhängig ist, hormonabhängig (man denke nur an die veränderte Geruchswahrnehmung in der Schwangerschaft), abhängig vom gesamten Stoffwechsel. Und natürlich kannte ich es auch von früher in Bezug auf die Nahrungsmittel, die einem anders zu schmecken scheinen, wenn man krank ist. Ich weiß auch, dass Geschmackssinn und Geruchssinn zusammengehören, und ich weiß vom phylogenetisch alten Riechhirn.

Das theoretische Wissen darum, dass man selbst in der Wahrnehmung der gleichen Gerüche völlig schwankend und unzuverlässig ist, ist aber noch etwas ganz anderes als die Auswirkung so glasklar und durchdringend am eigenen Leib zu spüren. Und das habe ich heute enorm eindrucksvoll und irritierend erlebt: Wie diese Veränderungen völlig von einem Besitz ergreifen, wie es sein kann, dass ich nach nur 12 Tagen den Lubin sowohl in Stimmung und Charakter als auch Duftnotenverteilung so dermaßen anders empfinde als die ganzen Monate vorher.

Bei Anglomania und Angel Étoile des Rêves kann es auch einfach die Abstinenz von 12 Tagen sein, also quasi die differenziertere Wahrnehmung der Geruchszellen nach einem einem Zurücksetzen auf Null. Aber bei dem Black Jade und Nin Shar erklärt sich das nicht so leicht.

Diese Erfahrung wollte ich Euch nicht vorenthalten, denn für mich macht sie zwei Dinge noch einmal überdeutlich:

Erstens, unser Urteil über Gerüche ist nicht nur völlig subjektiv, sondern auch noch extrem schwankend. Ohne, dass wir etwas dafür können, können wir nicht einmal für uns selbst ein dauerhaft zuverlässiger Maßstab sein.

Und zweitens bedeutet das für mich eben auch: wenn jemand anderes einen Duft ganz anders empfindet als wir, sollten wir uns nicht erlauben, darüber zu urteilen.

Die heutige Nacht verbringe ich leicht unglücklich mit Angel Étoile des Rêves. Er lässt sich nur schwerlich abwaschen. Und morgen probiere ich mich wohl mal an meiner Signatur. Drückt mir die Daumen, dass ich sie noch mag.

Sonst muss ich wohl damit warten, bis ich auch Kaffee wieder abkann.

Fröhliche Feiertage!

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