First
Firsts Blog
vor 4 Jahren - 02.11.2019
16 45

Hintergrundrauschen und Reihenfolgeeffekt

Wir wissen aus Forschungsarbeiten zur Wahrnehmung, dass unsere Sinne uns unter Umständen leicht täuschen können. So gibt es die hinlänglich bekannten optischen Täuschungen, die einen z. B. glauben machen, eine gerade Linie sei gebogen oder zwei gleich lange Linien seien unterschiedlich lang. Dabei ist nur der Hintergrund anders. Dies hängt von der Art und Weise ab, wie unsere Sinne und unser Gehirn funktionieren. Hier ein Beispiel: Die violetten Kegel in der Mitte sind gleich groß.

Wir kennen aus der Psychologie auch weitere Effekte, z.B. den Primacy-Recency-Effekt. In unserer, wie auch immer gearteten, Beurteilung einer Sache, ist es von Bedeutung, an welcher Stelle einer Reihe von Ereignissen oder Dingen sich die Sache befindet, die wir charakterisieren sollen.

Es ist z.B. nicht egal, ob meine Band beim Eurovision Song Contest als erstes, letztes oder in der Mitte auftritt. Sowohl am Anfang aufzutreten als auch am Ende, erhöht die Chancen, erinnert zu werden. Die in der Mitte werden leichter vergessen. Und nur was erinnert wird, hat Chancen, gewählt zu werden.

Hier spielen noch mehr Faktoren mit: Es ist auch nicht egal, ob wir direkt vor oder nach einem Superstar auftreten oder ob die Darbietungen direkt vor und/oder nach uns zu den schwächsten der Veranstaltung zählen. Und auch das ist wiederum komplexer als es auf den ersten Blick scheint: Erst einmal denken wir, wenn vor uns eine schwache Gruppe spielt, können wir uns positiv abheben und in der Regel ist das dann auch so, aber unter Umständen zieht uns die vorige Gruppe sogar mit in das schlechte Licht. Solche Phänomene hängen von vielen verschiedenen und je nach Situation individuellen Faktoren ab.

Und natürlich gibt es solche Effekte auch, wenn wir Parfum testen.

Ich durfte das neulich in außergewöhnlich frappierender Weise selbst erfahren:

Ich hatte mich im Tauschspiel auf einen Flakon "Or Pur" gemeldet.

Kaum erhalten, testete ich den Duft und notierte spontan wortwörtlich: "Anfangs fürchterlich stickig. Mein erster Eindruck: Calone. Aber ich glaube, es ist nur dieser komisch-stickige Kokos, der nicht nach Kokos riecht. Jedenfalls gnadenlos künstlich. Nachher in eine Plastiknote übergehend." Außerdem hatte er diese bestimmte Süße, die auf meiner Haut bitterscharf wird.

Ich verwarf ihn also sofort und stellte ihn bei Gelegenheit wieder ins Tauschspiel. Irgendwann wurde er genommen und als ich ihn verpackte dachte ich: Ich nehme nochmal einen Sprüher, um mich zu erinnern, was mit dem war.

Und dann - geschah das, wovon ich hier vorher schon oft gelesen hatte: Er begeisterte mich adhoc und ich fragte mich, wie ich denn bloß dazu komme, diesen genialen Duft wegzugeben. Aber zu spät: Ich schickte ihn los.

Meine Notizen nach dem zweiten Test: "In der Projektion hat er Ähnlichkeit mit meinem wunderbaren "Stricnina" von V Canto! Ein zweites Mal würde ich ihn nicht weggeben." Nun roch er also für mich plötzlich fruchtig-weich und würzig. Ja, das stechend Bittere der Süße war noch da, aber es war so sehr im Hintergrund, dass ich es vernachlässigen konnte.

Was tat ich also? Ich suchte im Netz, ob ich ihn nochmal bekommen konnte, denn er ist bereits eingestellt.

Vor etwa 10 Tagen kam mein zweiter Or Pur, neu, noch verschweißt, an. Begeistert sprühte ich und - welche Enttäuschung! Ich hatte den gleichen negativen Eindruck wie beim ersten Mal.

Wie konnte das sein?

Zuerst dachte ich, dass der Duft einfach die Temperaturschwankungen und das Geschüttel vom Transport nicht abkann. Das mag auch ein Faktor sein, aber ich glaube das Wesentliche sind hier intensive Reihenfolgeeffekte und Umgebungs- sowie Adaptationsphänomene.

Mein erster Test fand in einer Phase statt, in der ich vorher oft und mit Begeisterung "Stricnina" getragen hatte. Beim Testen von Or Pur verschwanden die Noten, die Stricnina ähnelten im Hintergrundrauschen und ich nahm nur das wahr, was die beiden unterscheidet, nämlich alles, was nicht dieser spezielle gemeinsame Fruchtakkord war, und das Scharfe von der Süße.

Mein zweiter Test fiel in eine Phase, in der ich oft begeistert "Hippie Rose" trug, einen sehr unsüßen Duft mit vornehmlich Rose, Patchouli und Weihrauch, was bei mir eine Assoziation von Leder hervorrief. Keine dieser Noten findet sich in Or Pur. Auf dem Hintergrund von Hippie Rose konnte ich die fruchtigen Anteile, also die Ähnlichkeit mit Stricnina, plötzlich herausriechen. Sie sprangen in meiner Wahrnehmung sogar sehr in den Vordergrund. Auch erschien mir der Duft süßer als beim ersten Test und die Süße war weniger scharf. Der scharfe Faktor trat offensichtlich in den Hintergrund, weil allein "süß" sich schon extrem von meinem Hippie-Rose-Hintergrund abhob.

Und beim dritten Test? Der dritte Test fiel in eine Phase, in der ich tagsüber oft "Black Tulip" getragen hatte und zur Nacht oft "Pluie de Perles".

Pluie de Perles überscheidet sich mit Or Pur nur durch seine Süße, die aber nicht den bitter-stechenden Unterton hat. Also erschien mir Or Pur auf diesem Hintergrund erneut besonders unangenehm bissig. Die Pflaume von Black Tulip wiederum, ließ mich offensichtlich den wunderbaren Fruchtakkord in Or Pur nicht mehr wahrnehmen.

Im Moment trage ich viel "White Patchouli" von Tom Ford. Plötzlich beginnt mit Or Pur wieder zu gefallen.....

Ein schönes Wochenende wünscht Euch

First

(Bilder: gemeinfrei)

16 Antworten

Weitere Artikel von First