Während seiner langen Wanderungen durch die raue Küstenlandschaft gingen Oso ständig Erinnerungen an sein anstrengendes letztes Jahr an der Olfaktorischen Akademie durch den Kopf. Die Märsche an dieser Steilküste führten seine Gedanken immer wieder in jene Zeit zurück, als er die langwierigen und zahlreichen Prüfungen in Zitrologie durchstehen musste. Er war ja nicht das, was man einen geborenen Zitrologen nennen konnte. Als er sich an der Akademie eingeschrieben hatte, begann er, wie viele andere junge Olfaktologen auch, mit Moschuslehre und Ambristik. Gerade diese Fächer waren für den weitreichenden und hervorragenden Ruf der Akademie in Palisandra seit Jahrzehnten verantwortlich gewesen und er hatte letztlich weniger eine unsichere Zukunft in der freien Duftforschung vor Augen, als vielmehr eine festbezahlte Stellung in einer der florierenden und zukunftsträchtigen duftproduzierenden Industriebetriebe oder einem olfaktiven staatlichen Institut.
Irgendwie war er aber, teils durch Neigung, teils durch Neugier und eine gewisse kompromisslose Wissbegier, immer kritischer geworden. Seine zur Zwischenprüfung vorgelegte schriftliche Arbeit „Moschus als manipulative Kraft in Politik und Medien“ brachte ihm hervorragende Bewertungen ein - aber auch ein paar Gegner - nicht nur in der Akademie, sondern auch in höherrangigen, gut informierten Kreisen. Wohlmeinende sahen in ihm einen eigenständigen und originellen Duftstudenten, Gegner eher einen Abweichler oder, schlimmer, einen politisch gefährlichen Untergrundarbeiter. Kurz, es gab Personen, denen nicht gefiel, dass solche Zusammenhänge und Gedanken an die breitere Öffentlichkeit gelangten. Weil Oso aber auch - eine Charakterschwäche - ein wenig konfliktscheu war und andrerseits unbehelligt seinen Forschungen nachgehen wollte, schwenkte er um und schrieb sich für das politisch eher unverfängliche Fach der Zitrologie ein, das ihn zusehends und zu seiner eigenen Überraschung, in seinen Bann zog. Denn hier ging es nicht nur um biologische, geografische und kulturhistorische Zusammenhänge, sondern auch um die zahlreichen symbolischen und strukturellen Ebenen, die für ihn die Zitrologie zu einem immer spannenderen Feld werden ließen. Desweiteren gab es da auch noch die experimentelle Zitrologie, die zu den abenteuerlichsten Bereichen der Duftforschung in ganz Profumien gehörte und die mit Reisen, vergleichenden Studien und zitrosoziologischen Recherchen einher ging. Es war die Avantgarde der Zunft und weil sie zwangsläufig die manchmal engen Mauern der Akademie verlassen musste und freie, ungebundene Geister anzog, wurde sie als Zitronautik bezeichnet. Dass er auch hier rasante Fortschritte machte, gefiel einem der Professoren gar nicht, leider ein Mann, der später in seiner Abschlussprüfung sitzen sollte. Oso hatte mit allem gerechnet, aber seine Prüfung bestand darin, dass er drei Zitronen auf eine Marmorplatte gelegt bekam und über diese Früchte umfassend Auskunft zu geben hatte. Das einzig erlaubte Hilfsmittel bestand in einem Messer. Prinzipiell konnte man damit machen, was man wollte, entscheidend war nur das mündlich dem Gremium vorgebrachte Ergebnis. Es wurde ihm eine Falle gestellt, denn gleich zwei der Zitronen stammten aus Sizilien. Bei der dritten handelte es sich um eine seltenere chinesische Zitrone. Nun hätte jeder Prüfling Früchte unterschiedlicher Provenienz erwartet und die zwei Sizilianer waren eine Böswilligkeit, an der Oso scheitern sollte, denn sie waren zum einen vom Geschmack und vom Duft her kaum zu unterscheiden, lagen irritierender Weise aber auch noch in unterschiedlichen Reifegraden vor. Nachdem er merkte, dass er hier eine schwere Aufgabe vor sich hatte, schnitt er die beiden Zitronen (die chinesische hatte er schnell und mühelos indentifiziert, asiatische Zitronen waren eine seiner Liebhabereien) nacheinander in dünne Scheiben - und erhielt die Lösung. Am spezifischen Verteilungsmuster der Kerne und deren leicht unterschiedlichen Größen konnte er eine der Früchte den Hängen des Ätna zuordnen, während die zweite aus der Gegend um Syrakus stammen musste. Letztlich hatte ihm hierbei sein gutes visuelles Gedächtnis geholfen. Obwohl es seinem Gegner sauer aufstieß, musste er zähneknirschend die Höchstwertung geben, denn überdies hinaus gelang es Oso, die Meernähe und die Höhenlage der betreffenden Zitronenplantage zweifelsfrei zu identifizieren.
Danach hatte er ein großzügiges Stipendium erhalten, das ihm erlaubte, zitronautische Fahrten in Europa durchzuführen, wo er sich nun schon seit einigen Monaten aufhielt, denn die Bedeutung der Zitronen und der Zitrusfrüchte auf diesem fernen Kontinent im allgemeinen war gar nicht zu überschätzen. Ein Eldorado für einen fahrenden Zitrologen. Wir werden an anderer Stelle mehr über seine erratischen Reisen erfahren, aber letztlich hatten sie ihn hierher an diese wilde Küste geführt, denn hier erhoffte er sich neue Einsichten.
Die Frage lautete, wie es möglich war, dass in einer kleinen Duftmanufaktur ein Zitronenwasser hergestellt wurde, das die Spritzigkeit der Zitrone mit einer leichten, fast wachsweichen Note zu dämpfen in der Lage war. Und warum ausgerechnet hier, in einer Gegend, die selten einen Zitronenbaum überhaupt gesehen hatte, ein Duft so eine selbstverständliche, naturnahe Zitrusnote entwickelte, als befände man sich in den weit südlich gelegenen Herkunftsgebieten dieser Früchte. Für seine Forschungen hatte er sich für einige Tage in einem kleinen Steinhaus in der Nähe eingemietet. Er war ans Meer hinuntergegangen und hatte sich das Labor und die Produktionsstätten angesehen. Er hatte sich nochmal seine Studien über Modifikation und Modulation von Zitrusdüften vorgenommen, allein, er hatte zwar viele Thesen, aber keine Gewissheiten. Er war nach St. Malo gereist und hatte den Laden besucht, wo die Düfte verkauft wurden. Weder den Arbeitern in der Manufaktur, noch den Parfümeuren noch der überaus höflichen Verkäuferin in besagtem Laden konnte er das Geheimnis entlocken. Denn, obwohl er den Duft der Verbene kannte und zum Thema Pfirsichblüten alles gelesen und gerochen hatte, was ihm in seinem Studium greifbar war, so war ihm diese paraffinartige Milde, in der diese sehr frische Zitrone eingebettet war, doch ein großes Mysterium. Nicht nur, dass damit auch die Haptik der Schale, ihre wachsartige Konsistenz, dem Duft beigegeben wurde, es war auch erstaunlich, wie weich die Zitrone somit wurde, so dass ihm trotz seiner langen Studien auf diesem Gebiet nichts Entsprechendes bekannt war. Der beste Zitrologe seines Jahrgangs war an den Grenzen seines Wissens angelangt. Das erste Mal in seinem Leben erwog er eine kriminelle Tat, um an das Rezept des Duftes zu gelangen und das Geheimnis zu lüften. Er hätte in Holzduftkunde damals besser aufpassen sollen; vielleicht hätte ihm das geholfen, die seltsame Rolle von Palisander in diesem Gemisch zu bestimmen. Er hatte sich, was er selten tat, weil es ihm unprofessionell erschien, dieses Mal sogar mit einigen Tropfen des Parfums benetzt. Jedesmal schien es ihm, als blitzte die Erkenntnis vor ihm auf, und jedesmal entzog sie sich ihm wieder und ließ ihn rätselnd zurück. Er hatte viel über die Verbene nachgedacht, aber auch sie erklärte nicht die weiche Sanftheit inmitten eines zitrischen Duftes, die ihn so sehr berührte und sich wundersam mit den frischen Winden in dieser Weltgegend verband. Oso hatte noch nicht gefunden, wonach er suchte, aber war zuversichtlich und fühlte sich frei. Er wollte es wagen.