Man muss schon ein Chypre-Junkie sein um diesen Duft schätzen, oder gar lieben zu können. Denn im Gegensatz zu vielen Düften mit mehr oder minder deutlicher Chypre-Tendenz, aber anderem Schwerpunkt, ist ‚Kintsugi’ ein richtiges Vollblut- oder meinetwegen Hardcore-Chypre.
Vom Kopf, über das Herz, bis hinab zur Basis – alle sich entfaltenden Akkorde, Facetten und Nuancen fügen sich bruchlos in das alles überwölbende Chypre-Konzept ein.
Apropos ‚bruchlos’ – womit wir beim Thema wären: ‚Kintsugi’, oder auch ‚Kintsukuroi’ heißt die japanische Kunstform des schmuckvollen Zusammenfügens von zerbrochenem Porzellan. Die Bruchstellen werden Mithilfe eines goldhaltigen Lackes verklebt und durchziehen nunmehr wie goldene Adern die hell schimmernde Keramik. Erst durch den Bruch und die anschließende Heilung des Bruches entsteht die eigentliche, ‚Kintsugi’genannte Kunstform.
Auf den Duft gleichen Namens übertragen, könnte man nun auf den naheliegenden Gedanken kommen, dass das für Chypres so essentielle Eichenmoos die Rolle des Goldlackes übernimmt und die einzelnen Duft-Bestandteile gleichermaßen zusammenfügt.
Dem ist aber überhaupt nicht so, und das macht ‚Kintsugi’ so besonders.
‚Kintsugi’ ist vielmehr ein ‚Mitsouko 2.0’.
Wird der legendäre Guerlain-Duft von Kopf bis Fuß von Eichenmoos regelrecht beherrscht, übernimmt diese Rolle bei ‚Kintsugi’ das Patchouli, bzw. ein sogenanntes ‚Patchouli Coeur’, ein Absolue, dem durch Fragmentierung alles Knarzige und Muffige der einst so beliebten Patchouli-Öle genommen wurde. Wieder zusammengesetzt wurden jene Teile, die einen feucht-moosigen, waldig-erdigen Dufteindruck vermitteln, oder wie es ein Anbieter beschreibt: „ ...you can detect dead leafs, wet wood and an earthy odour.... It also recalls the smell of rain.“
Schon seit jeher sekundierte das Patchouli, gemeinsam mit Labdanum und Bergamotte, dem unverzichtbaren Eichenmoos, wollte der Parfumeur, bzw. die Parfumeurin einen Chypre-Effekt erzielen. Doch seit die Verwendbarkeit des Eichenmooses (sowie des günstigeren Baummooses) auf eine homöopathische Dosis reduziert wurde, ist guter Rat teuer, und es wird fieberhaft an Alternativen gesucht. Synthetische Moose kamen mit unterschiedlichem Erfolg zum Einsatz und auch das aufwendig vom inkriminierten Atranol befreite Eichenmoos erwies sich nicht als restlos überzeugend, da es seine Fähigkeit als Fixativ zu dienen verlor.
Nach dem Ausfall des Hauptdarstellers tritt nun offenbar das Patchouli an die Rampe. Schon für seinen Chypre-Duft ‚French Affair’ legte Quentin Bisch den Schwerpunkt wesentlich deutlicher auf diesen hochkomplexen Duftstoff, als auf das nicht weniger komplexe Eichenmoos. Noch Patchouli-zentrierter geriet schließlich ‚Chypre 21’ von James Heeley, dem das wenige verwendbare Moos im Grunde nur noch als Feigenblatt dient, und der dem Chypregerüst einen weiteren Duftbaustein einfügt: die Alge.
Auch Vanina Muracciole soll mit japanischen Rotalgen gearbeitet haben, das behauptet jedenfalls ‚cafleurbon.com’. Im Gegensatz zu ‚Chypre 21’ tritt die Alge aber nach meinem Empfinden hier weniger deutlich zutage.
Überhaupt lässt sich ‚Chypre 21’ gut mit ‚Kintsugi’ vergleichen, da beide Düfte nicht nur eine große Schnittmenge bei den Noten aufweisen, sondern tatsächlich auch recht ähnlich riechen. ‚Kintsugi’ ist gewissermaßen die Extrait-Version von ‚Chypre 21’, dessen noch vollere, noch dunklere, noch bitterer duftende Variante. Und wirklich übertrifft der Masque-Duft jenen von James Heeley in Sachen Haltbarkeit und Projektion um Längen (was auch gut so ist, da die spärlichen 35ml daher eine Weile halten dürften und der exorbitante Preis verschmerzbar wird ..).
Aber, ‚Kintsugi’ ist nicht einfach nur die Parfum-Version von ‚Chypre 21’, der Duft geht in Sachen Wiederbelebung des Chypre-Genres auch noch den letzten und entscheidenden Schritt: es verzichtet ganz und gar auf Eichenmoos, und wie man hört, auch auf die Verwendung synthetischer Ersatzstoffe, wie beispielsweise Evernyl.
So findet die Mission ‚Wiederauferstehung eines Totgeglaubten’ mit ‚Kintsugi’ ihr glorreiches, hoffentlich nur vorläufiges Ende und alle Chypre-Begeisterten müssten eigentlich vor Freude jauchzen.
Allein, sie tun es nicht...
In den Kommentaren zum Duft reichen die Assoziationen von Malerabteilung, Aschenbecher, strenges Kunstleder, frisch aufgeschnittener roher Kartoffel, bis hin zu Mundgeruch.
Allgemeine Ratlosigkeit reiht sich an brüske Ablehnung, und nur wenige können ‚Kintsugi’ etwas abgewinnen.
Seltsam - ich finde diesen Duft fantastisch!
All die zitierten Assoziationen kann ich zwar ansatzweise nachvollziehen, vom Mundgeruch mal abgesehen, aber ich teile sie nicht. Am ehesten kann ich noch etwas mit der Kartoffel und der Malerabteilung anfangen, denn herb-staubiges, sowie vegetabil-erdig-feuchtes, finde ich durchaus im Dreh-und Angelpunkt des Duftes, dem Patchouli-Ceur, wieder.
Aber trotz der Omnipräsenz dieses Patchouli-Coeurs sind die für Chypres so typischen Begleitnoten wie Bergamotte und Rose durchaus erkennbar. Magnolie steuert einen dezenten Weißblüher-Akkord bei, ‚Ambrinol’ wiederum die ledrigen und animalischen Facetten des ‚Ambregris’. Ein Hauch unsüßer Vanille verleiht dem Duft eine gewisse Rundung, ohne ihn über die Maßen in eine orientalische Richtung zu pushen, und für etwas grüne Frische sorgen Veilchen- und Himbeerblatt.
Der Kitt, der all diese Noten zusammenhält – um wieder auf die Kunstform ‚Kintsugi’ zurückzukommen – ist besagtes ‚Patchouli-Coeur’.
Die Erschaffer des Duftes wollten, dass es zum Goldlack mutiere und die einzelnen Noten, analog zur gesprungenen Keramik, dekorativ überdecke.
Ist dieses Vorhaben geglückt? Ist die gesamte Inspiration nachvollziehbar umgesetzt?
Ich meine ja, sehr gut sogar.
Puristen werden nörgelnd einwenden, ‚Kintsugi’ sei gar kein Chypre, da kein Eichenmoos weit und breit. Ja, sie haben Recht. Aber auch dem Dom von Florenz wurde vorgehalten, er sei gar kein richtiger Dom, da er nicht im Stil der Gotik zuende gebaut wurde, sondern in den neuen Formen der Renaissance.
Es gibt Zeiten, da ändert sich eben Grundlegendes und in Sachen Chypre-Duft scheint mit der Wachablösung des Eichenmooses durch das Patchouli eine solche Zeit angebrochen. Sicher, die neuen, modernen Chypres riechen etwas anders, vor allem im Fond hinterlässt das Patchouli einen etwas anderen Grundton. Aber alles was ein Chypre ausmacht, die typische herbe Bitterkeit, die an Tinte erinnernde mineralisch-salzige Feuchte, die erdig-waldigen Untertöne – alles da!
Erwähnt sei noch, dass ‚Kintsugi’ von allen Geschlechtern getragen werden kann. Männer mögen den Duft wegen seiner floralen Anteile vielleicht als zu feminin empfinden, Frauen wegen seiner dunkel-bitteren Tönung womöglich als zu maskulin – aber war das nicht auch schon bei ‚Mitsouko’ so?