Tzora 2012

Version von 2012
Yatagan
08.02.2014 - 10:25 Uhr
41
Top Rezension
10
Flakon
5
Sillage
7.5
Haltbarkeit
9
Duft

Das Ideal der Einfachheit - pensée de midi

Unkommentierte Düfte No. 23

Gerade hatte ich die Lektüre des großartigen Buchs von Iris Radisch über Albert Camus „Das Ideal der Einfachheit“ abgeschlossen, als ich mir klar wurde, welchen Duft ich anschließend besprechen wollte: Anat Fritz‘ Tzor‘a.

Folgt man Iris Radisch, der Feuilleton-Chefin der Wochenzeitung „Die Zeit“, dann kreist vieles im Denken und Schaffen Albert Camus‘, einem der größten Schriftsteller und Philosophen des 20. Jahrhunderts (je nachdem, welche Definition von Philosophie man zugrunde legen möchte, ist er es - oder ist er es nicht) um den Begriff der Einfachheit: zurück zu den ursprünglichen Ideen des Lebens - oder um es mit Camus selbst zu sagen, „dass ein Menschenwerk nichts anderes ist als ein langes Unterwegssein, um auf dem Umweg über die Kunst die zwei oder drei einfachen großen Bilder wiederzufinden, denen sich das Herz ein erstes Mal erschlossen hat.“

Dieser so einfache wie elementare Satz ist auch die passgenaue Definition für diesen Duft. Besonders interessant in diesem Zusammenhang: Anat Fritz bemerkte im Kontext der Entwicklung dieses Duftes, sie habe niemanden anderen als Geza Schön mit der Komposition ihres Duftes beauftragen wollen, diesen Meister der Schlichtheit und der verblüffenden Einfachheit, die mir persönlich beim ein oder anderen Duft zu weit geht (z.B. bei einigen Escentric Molecules-Düften), die mich hier aber unmittelbar und existentiell (im wahrsten Sinne des Camus‘schen Wortes) anspricht.

Die mittelmäßigen Bewertungen von Tzor‘a rühren sicherlich auch daher, dass der Duft scheinbar unauffällig ist, scheinbar kaum vorhanden, flüchtig, ohne die Haut wirklich zu verlassen. Ähnlich geht es ja auch häufig dem immer wieder von mir als Referenz genannten Timbuktu von L‘Artisan, der wohl nur deshalb bereits mehrfach unter den bestbewerteten 100 Unisexdüften dieser Seite aufgetaucht ist, weil immer wieder (und vor allem von Luca Turin) darauf hingewiesen wurde, dass dieser Duft Geduld erfordert und nicht nach dem ersten Test bewertet werden sollte. Nur wer den Duft mehrfach auf der Haut hatte, sollte ein Urteil fällen, dass dann natürlich auch - je nach Geschmack und Zugang - weniger gut ausfallen kann. Nur übereilt darf es nicht gesprochen werden.

Tzor‘a scheint mir von ähnlicher Substanz. Unauffällig, leise, weich, klar, fast durchsichtig, aber ungemein raffiniert. Ich sehe den Duft bei 90%, bin jedenfalls ganz persönlich der Meinung, dass die derzeitige Gesamtwertung dem Duft in keinem Fall gerecht wird. Für mich ist er sogar ein Kaufkandidat ersten Ranges. Ob es dazu kommt, wird die Zeit zeigen. Geduld!

Irreführend ist auch die Duftpyramide: nicht etwa so, dass sie nicht stimmen würde. Ich meine sogar, dass die Angaben gut nachvollziehbar sind. Erstaunt bin ich aber immer wieder bei einem Test des Duftes, wie wenig sich Noten in der Vordergrund drängen, die ich sonst als stärker, dominanter wahrgenommen habe.

Das beginnt bereits mit der Johannisbeere, die ja einen markanten Ton hat, hier aber nur dezent wahrnehmbar ist und (was bei Fruchtnoten allerdings nicht verwundern muss) nicht allzu lange erkennbar. Bergamotte, so inflationär es in Düften verwendet wird, erscheint hier allenfalls als Subtext, dafür ist die Salbeinote, die ich sehr liebe, stärker im Zentrum der Kopfnote.

Blütentöne blitzen auf, verschwinden wieder, Pfeffer und holzige Noten bilden die Herznote, bevor Moos und Moschus den Duft abrunden. Gefragt habe ich mich, ob und wann das Patchouli seinen Auftritt haben würde, eine Komponente, die ich nur ertrage, wenn sie dezent im Hintergrund bleibt, und tatsächlich bildet das Patchouli einen schwachen Schleier, der im Bildhintergrund weht, wie von einem leichten Luftzug bewegt, ähnlich wie bei Timbuktu. So und nicht anders mag ich Patchouli besonders gerne (mit Ausnahme der erdigen, pur und ungeschminkt auftretenden Variante, wie man sie gelegentlich auf Hippie-Festivals riechen kann).

Auch der untergründig wirkende Vetiver erinnert mich an Timbuktu oder Canali Style, auch wenn er hier weniger spürbar ist und ich ihn ohne eine Angabe in der Duftpyramide nicht wahrgenommen hätte. Letztlich ist all dies eher die Idee von einem Duft als der Duft selbst (im platonischen Sinne?), darin Timbuktu wiederum nicht unähnlich: leise, fein gesponnen, nicht warm und nicht kalt, kühl vielleicht, hell aber nicht sonnendurchflutet, sondern wie an einem windigen, frischen Herbsttag, nicht männlich, nicht weiblich, eher beides im Sinne von androgyn, nicht orientalisch, kein Chypre, kein Hesperide, kein ozeanischer Duft, sondern „postmodern“ im Sinne eines neuen Zugangs zu Düften, der so wenig Markanz und äußeren Rahmen definiert, dass er nicht erfolgreich sein kann, sondern am Rande des Marktes steht und dem Treiben der Ouds und Orientalen, Sport- und Frischedüften zuschaut und etwas melancholisch wirkt: die Idee des Schattens an der Wand in der Höhle.

Das ist ungemein charmant, ungemein neu, modern, im Grunde einfach, fast nackt.

Um es noch einmal mit Camus und Iris Radisch zu sagen, die mit diesem Zitat ihr großes Buch über einen großen Dichter abschließt, so merkwürdig vielleicht einigen der Vergleich zwischen Literatur, Philosophie, Lebenskunst und Duft anmuten mag: „So hat mich jedes Mal, wenn ich den tiefsten Sinn der Welt zu erfühlen glaubte, vor allem ihre Einfachheit erschüttert.“
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