Unkommentierte Düfte No. 111 (zu Silvester)
Das Zitat aus der Titelzeile stammt aus der Schlussszene des Films "Die Feuerzangenbowle" mit Heinz Rühmann aus dem vorletzten Jahr jenes mörderischen Krieges, den das nationalsozialistische Deutschland angezettelt hatte. Abgesehen von eher marginalen Zugeständnissen Heinz Rühmanns, der den Film selbst produziert hatte, ist die "Feuerzangenbowle" eine teils sogar wortgleiche Wiedergabe des Romans von Heinrich Spoerl aus dem Jahre 1933. Eine bedeutsame Reminiszenz an nationalsozialistische Ideologie ist wohl vor allem die Figur des Oberlehrers Dr. Brett, die im Romans so nicht enthalten war, dessen schneidige Gestalt und dessen an Disziplin orientierte pädagogische Grundsätze stark mit den humanistischen Idealen der anderen Lehrer kontrastieren, gerade deshalb jedoch und wegen des sprechenden Namens ("Brett") gelegentlich auch als (dezente) Kritik am System verstanden werden konnten. Immerhin wollte die faschistische Zensur den Film tatsächlich stoppen und erst nach Rühmanns persönlicher Intervention ließ man die Aufführung schließlich zu. Man muss die zeitweise Kollaboration von Rühmann mit den Nazimachthabern nicht schönreden; was jedoch allemal bleibt, ist ein deutscher Kultfilm, dessen Währung nicht nur faschistische Ideologie, sondern doch auch Humanismus und, nun ja, Eskapismus (so ein berechtigter Vorwurf an einen Film im letzten Kriegsjahr) ist.
Als ich den Film an Heilig Abend zum wiederholten Male (und zum ersten Mal mit unserer jüngsten Tochter) sah, fiel mir besonders der letzte Satz des Schriftstellers Pfeiffer (Heinz Rühmanns / Heinrich Spoerls) auf, auf den ja quasi der ganze Film hinausläuft: "Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir mit uns tragen, die Träume, die wir spinnen und die Sehnsüchte, die uns treiben." Und er ergänzt: "Damit wollen wir uns bescheiden." Natürlich kann man auch diesen Satz im Sinne eines gewollten Eskapismus im letzten Kriegsjahr lesen, man kann ihn aber auch im Sinne einer sehr allgemeinen platonischen Philosophie verstehen und damit (verkürzt) als des Vorrangs ideellen Gehalts vor materialistischen Werten. Was nun zutreffender ist: Eskapismus oder Platonismus (ja, ich weiß schon, das müsste man jetzt genauer definieren), soll jeder für sich selbst entscheiden (Vorwarnung: Ich diskutiere das hier nicht im Antwortbereich meines Kommentars, da ich überzeugt bin, dass es hier kein richtig oder falsch geben wird).
Der Satz schien mir eine zutreffende Zusammenfassung für das, was hier bereits häufig in Blogs und im Forum als "Assoziationskraft von Düften" diskutiert wurde. Zurecht! Düfte lösen in uns mehr aus als nur das Gefühl von Wohlgeruch, vielmehr noch Erinnerungen, Sehnsüchte und Träume: Väter und Mütter, Freunde und Weggefährten, Situationen in Kindheit und Jugend, die plötzlich wieder "da" sind und damit so gut wie präsent. Das wurde mehr als genug vertieft.
Solche Hirngespinste sind vielleicht dann am stärksten, wenn wir vor einer Wegscheide stehen. Vielleicht ist mir deshalb dieser Film und dieser letzte Satz des Films am Ende des Jahres bedeutsam geworden.
Besonders schön passt zu dieser Wende, die eine Jahreswende ja immer ist, ein Duft, der selbst ein Teil von Geschichte sein will: Ein Duft, der ein bisschen von seiner eigenen Geschichte erzählen kann. "Rancé 1795 Francois Charles" wurde angeblich ursprünglich für Franz Karl Bonaparte (Francois Charles Bonaparte, Herzog von Reichstadt), den Sohn des französischen Kaisers und Feldherren Napoleon Bonaparte, komponiert. Viel Zeit hatte er allerdings nicht, dass man ihm einen Duft widmen konnte, denn er verstarb mit 21 Jahren 1832 im österreichischen Exil auf Schloss Schönbrunn in Wien an einem Lungenleiden. Zu berücksichtigen ist, dass der Duftgeschmack des frühen 19. Jahrhunderts ein anderer war als heute, dass man keine aromachemischen Mittel zur Verfügung hatte und auf klassische Parfümerie angewiesen war, kurz, dass der heutige Duft mit dem damaligen vermutlich so viel gemeinsam hat wie ein Hybrid-Automobil mit einer Pferdedroschke. Macht aber nichts! Die Geschichte ist doch schon mal sehr nett. Rancé ist übrigens die ehemalige Hofmanufaktur des französischen Kaiserhofes unter Napoleon, für den der Hersteller mehrere Düfte, die auch heute noch namentlich im Programm enthalten und sicherlich alle so ziemlich völlig reformuliert worden sind, komponiert hatte. Da haben wir sie wieder: Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte. Der Stoff, aus dem Duft (eigentlich) gemacht ist. Somit ist es letztlich völlig gleich, ob Francois Charles um 1830 völlig anders roch als 2016 resp. 2008 (denn es gibt noch eine weitere, hier gelistete Version; s.u.). Der Duft weckt Assoziationen, die Marke hat Charakter und steht auf dem Sockel ihrer eigenen Geschichte: schön. Mir reicht das bis hierher erstmal.
Etwas komplizierter verhält es sich mit der jüngeren Geschichte: Bei Parfumo meinte man nämlich, eine 2008er- und eine 2016er-Version des Duftes listen zu müssen, womit ich gar nicht so ganz einverstanden bin, aber es ist ja zugegebenermaßen schwierig, eine abschließende Linie hinter einer Reformulierung zu ziehen. Anders ausgedrückt: Warum ist Eau Sauvage EdT bisher nur in einer Version (nämlich der von 1966) aufgeführt, obwohl doch jeder weiß, dass es da einige Reformulierungen gab, die den Duft veränderten, ruinierten, halbwegs wieder herstellten usw., Rancé Francois Charles dagegen in zwei Versionen (2008 / 2016), obwohl beide Düfte nichts mit der Ursprungsversion zu tun hatten (die keiner mehr kennt und von der nur eine Firmen-Mär berichtet), die sich aber offenbar eher in Akzenten unterscheiden (mir liegen beide Versionen vor)?
Alles in allem haben nämlich beide Düfte (von 2008 und von 2016) einen etwas peinlichen, aufdringlichen Verwandten aus prekärem Milieu, der so gar nichts mit Kaisersöhnen, Feldherren und Herzögen zu tun hat; einen gewissen blauen Seemann, der knallenge Hosen und freien Oberkörper trägt: Le Male. Während jedoch Le Male mit Tonka, Vanille und Neroli ordentlich auf die Pauke haut, gibt sich der Kaiserspross deutlich dezenter, distinguierter, eleganter, ohne penetrante Wolke aus Tonka und Orangenblüte, mit anderen Worten ohne die charakteristische Francis-Kurkdjian-DNA. Das kann man bedauern, wenn man es gerne lauter mag, das kann man aber auch richtig gut finden, wenn man leise Düfte bevorzugt. Die Kopfnote bleibt länger haften, ist sehr komplex und doch klassisch im Sinne eines Kölnisch Wassers, führt dann zu einer holzigen Basis, in der die Tonkanote schon einigermaßen gut erkennbar, durch zahlreiche weitere Komponenten aber besser eingebunden ist.
Wie mir scheint ist es ohnehin das Prinzip von Rancé, klassisch dezente oder aber klassisch dezente Varianten bekannter Düfte (vgl. auch Heroique zu Aventus) zu basteln.
Wer es also an Silvester mal leiser angehen möchte, da es draußen ja schon laut genug ist, der könnte sich auf diesen äußerst eleganten Duft verlegen, der sehr gut zu einem vegetarischen Fondue, dem Verzicht auf Knallerei, einer großzügigen Spende, eleganter Garderobe und etwas Besinnung passen könnte. Wohlgemerkt: Man könnte! Das ist nur eine von 99.000 Möglichkeiten aus unserer Datenbank (sic!).
Einen schönen Altjahresabend und einen guten Neujahrsmorgen wünscht
Yatagan