29.03.2014 - 16:18 Uhr

Palonera
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Palonera
Top Rezension
27
woanders
Hochsommer 1977.
Ein knallblauer Himmel mit sahneschaumzuckerweißen Schäfchenwolken und einer flirrenden, sirrenden zitroneorangeroten Sonne spannt sich über das Dorf irgendwo im Hochsauerland, in dem meine Großeltern leben, ganz am Ende des Ortes, wo nur noch Felder sind und Schotterwege und der alte Bahndamm, den alle paar Tage rumpelnde Güterwaggons passieren.
Ich bin neun Jahre alt und darf meine Sommerferien in ihrem alten Haus verbringen, dessen Holzböden knarren bei jedem Schritt und wo man die Toilettenspülung betätigt, indem man an einer langen Kette zieht.
Hinter dem Haus steht ein Taubenschlag, im Schlafzimmer eine Badewanne, unter Großmutters Bett ein Nachttopf.
Es ist eine andere Welt als die, in der ich lebe, wenn ich zur Schule gehe – in der Stadt sind Autos und Straßen und Menschen, die es immer eilig haben, die mürrische Gesichter über hochgezogenen Schultern tragen und denen wir Kinder immer im Weg sind, wenn wir auf dem Gehweg spielen oder im Hof, auf der verlassenen Baustelle oder zwischen parkenden Autos.
Wo sollen wir es auch sonst tun?
Dort, wo meine Großeltern leben, gibt es nicht viele Autos – die Menschen gehen zu Fuß oder fahren Rad, die Wege sind holprig und von den Wurzeln der Bäume durchzogen, die schon dort standen, als mein Großvater noch ein kleiner Bub war, kleiner als ich.
Seine Eltern haben das Haus gebaut, in dem er sein ganzes Leben lang geblieben ist, zufrieden, erstaunt über meine kindliche Frage, ob er denn nie woanders hätte sein wollen.
"Wo denn, woanders? Hier bin ich geboren, hier bin ich zu Hause, hier werde ich irgendwann auch sterben. Warum sollte ich woanders hingehen, Kind?"
Ja, warum?
Was hätte woanders besser sein können als dort, wo jeder kleine Gegenstand im Haus eine Geschichte erzählt, wo er frühmorgens am Waldrand Rehe beobachtet und am Abend mit den alten Männern des Dorfes Skat spielt, wo er mir unter Protest meiner Großmutter den Umgang mit der Sense beibringt und das Schummeln beim "Mensch-ärgere-dich-nicht"?
Und mich mitnimmt in den großen Garten, den außer ihm niemand betreten darf.
Möhren wachsen dort und Erbsen, Kartoffeln und Zwiebeln und Lauch, Kopfsalat und Blumenkohl, gehegt und gepflegt und viel schöner als alles, was es im Supermarkt zu kaufen gibt.
Äpfel und Pflaumen reifen heran, Kirschen und Stachelbeeren, Birnen und ein Meer von Johannisbeeren, deren säuerlich-herber Duft mir schon den Mund zusammenzieht, noch bevor ich die erste Beere hineingeschoben habe.
Seit Tagen scheint die Sonne und hat Blätter und Strauchwerk, Boden und Beeren aufgewärmt – ich hocke im Schatten der Sträucher, umgeben von diesem wunderbaren Sommerduft, der nicht süß ist und doch so unsagbar lecker, ein bißchen sauer, ein bißchen grün, ein bißchen stumpf von der Erde unter meinen Knien.
Ich pflücke und pflücke und pflücke, meine Finger dunkelrot vom Saft zerdrückter Beeren, die große Schüssel neben mir ist schon zu klein.
Großvater kauert sich neben mich, reicht mir einen Becher mit Grapefruitsaft, wischt mir das verschwitzte Haar aus der Stirn.
Ein leichter Wind kommt auf, bringt einen Hauch von Weihrauch mit aus der Kirche im Dorf, hell und fast freundlich, nicht der dumpfe und drückende, den der alte Pfarrer verbrannt hat.
In meiner Nase kitzelt es – Weihrauch und Johannisbeeren vermischen sich zu einem Duft, wie ich ihn noch nie gerochen habe, wie er mir vielleicht nie wieder begegnen wird.
Tief atme ich ein, die Augen geschlossen...
...und öffne sie wieder an einem Abend im März 2014, die Nase am Handgelenk, auf der Haut "Eau de Fröhliche No. 3".
Mundwässernde, absolut authentische Johannisbeeren mit Blatt und Stumpf und Stiel, ein feinherber Hauch Grapefruit vor einem transparenten Hintergrund hell-sakralen Weihrauchs haben mich herausgelöst aus Zeit und Raum, aus Hier und Jetzt, haben mich mit einem Atemzug um Jahrzehnte in die Vergangenheit gebeamt an einen Ort, dessen Einzigartigkeit ich nicht erhalten konnte, den Erik Kormann mit seinem Duft für mich wiedererstehen ließ.
Danke.
Ein knallblauer Himmel mit sahneschaumzuckerweißen Schäfchenwolken und einer flirrenden, sirrenden zitroneorangeroten Sonne spannt sich über das Dorf irgendwo im Hochsauerland, in dem meine Großeltern leben, ganz am Ende des Ortes, wo nur noch Felder sind und Schotterwege und der alte Bahndamm, den alle paar Tage rumpelnde Güterwaggons passieren.
Ich bin neun Jahre alt und darf meine Sommerferien in ihrem alten Haus verbringen, dessen Holzböden knarren bei jedem Schritt und wo man die Toilettenspülung betätigt, indem man an einer langen Kette zieht.
Hinter dem Haus steht ein Taubenschlag, im Schlafzimmer eine Badewanne, unter Großmutters Bett ein Nachttopf.
Es ist eine andere Welt als die, in der ich lebe, wenn ich zur Schule gehe – in der Stadt sind Autos und Straßen und Menschen, die es immer eilig haben, die mürrische Gesichter über hochgezogenen Schultern tragen und denen wir Kinder immer im Weg sind, wenn wir auf dem Gehweg spielen oder im Hof, auf der verlassenen Baustelle oder zwischen parkenden Autos.
Wo sollen wir es auch sonst tun?
Dort, wo meine Großeltern leben, gibt es nicht viele Autos – die Menschen gehen zu Fuß oder fahren Rad, die Wege sind holprig und von den Wurzeln der Bäume durchzogen, die schon dort standen, als mein Großvater noch ein kleiner Bub war, kleiner als ich.
Seine Eltern haben das Haus gebaut, in dem er sein ganzes Leben lang geblieben ist, zufrieden, erstaunt über meine kindliche Frage, ob er denn nie woanders hätte sein wollen.
"Wo denn, woanders? Hier bin ich geboren, hier bin ich zu Hause, hier werde ich irgendwann auch sterben. Warum sollte ich woanders hingehen, Kind?"
Ja, warum?
Was hätte woanders besser sein können als dort, wo jeder kleine Gegenstand im Haus eine Geschichte erzählt, wo er frühmorgens am Waldrand Rehe beobachtet und am Abend mit den alten Männern des Dorfes Skat spielt, wo er mir unter Protest meiner Großmutter den Umgang mit der Sense beibringt und das Schummeln beim "Mensch-ärgere-dich-nicht"?
Und mich mitnimmt in den großen Garten, den außer ihm niemand betreten darf.
Möhren wachsen dort und Erbsen, Kartoffeln und Zwiebeln und Lauch, Kopfsalat und Blumenkohl, gehegt und gepflegt und viel schöner als alles, was es im Supermarkt zu kaufen gibt.
Äpfel und Pflaumen reifen heran, Kirschen und Stachelbeeren, Birnen und ein Meer von Johannisbeeren, deren säuerlich-herber Duft mir schon den Mund zusammenzieht, noch bevor ich die erste Beere hineingeschoben habe.
Seit Tagen scheint die Sonne und hat Blätter und Strauchwerk, Boden und Beeren aufgewärmt – ich hocke im Schatten der Sträucher, umgeben von diesem wunderbaren Sommerduft, der nicht süß ist und doch so unsagbar lecker, ein bißchen sauer, ein bißchen grün, ein bißchen stumpf von der Erde unter meinen Knien.
Ich pflücke und pflücke und pflücke, meine Finger dunkelrot vom Saft zerdrückter Beeren, die große Schüssel neben mir ist schon zu klein.
Großvater kauert sich neben mich, reicht mir einen Becher mit Grapefruitsaft, wischt mir das verschwitzte Haar aus der Stirn.
Ein leichter Wind kommt auf, bringt einen Hauch von Weihrauch mit aus der Kirche im Dorf, hell und fast freundlich, nicht der dumpfe und drückende, den der alte Pfarrer verbrannt hat.
In meiner Nase kitzelt es – Weihrauch und Johannisbeeren vermischen sich zu einem Duft, wie ich ihn noch nie gerochen habe, wie er mir vielleicht nie wieder begegnen wird.
Tief atme ich ein, die Augen geschlossen...
...und öffne sie wieder an einem Abend im März 2014, die Nase am Handgelenk, auf der Haut "Eau de Fröhliche No. 3".
Mundwässernde, absolut authentische Johannisbeeren mit Blatt und Stumpf und Stiel, ein feinherber Hauch Grapefruit vor einem transparenten Hintergrund hell-sakralen Weihrauchs haben mich herausgelöst aus Zeit und Raum, aus Hier und Jetzt, haben mich mit einem Atemzug um Jahrzehnte in die Vergangenheit gebeamt an einen Ort, dessen Einzigartigkeit ich nicht erhalten konnte, den Erik Kormann mit seinem Duft für mich wiedererstehen ließ.
Danke.
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