FEUILLETON VS. POLITIK
Als ich vor drei Wochen meinen letzten Kommentar schrieb, hätte ich nie gedacht, dass es mein letzter Kommentar werden würde. Denn es gibt ja hier jetzt keine Kommentare mehr. Stattdessen also Rezensionen. Der Sinn dieser Begriffsumstellung nach etwa 10 Jahren Kommentaren auf Parfumo erschließt sich mir nicht ganz. Immerhin, als vor ein paar Jahren die Abonnenten über Nacht zu Followern wurden, vermisste ich den etwas bildungsbürgerlich angehauchten Begriff, bei dem man an Theatersubskriptionen denken konnte. Nun also schlägt das Feuilleton zurück! Statt des (politisch klingenden) Kommentars jetzt die Rezension (aus dem Kulturteil). Warum nicht?
PARIS VS. WIEN
Wir sprechen hier über eine meiner Lieblingsduftmarken. Ich besitze vier Parfums, zwei eher kräftige (Singular Oud und Sensual Blend) und zwei leichte (Lost Paradise und In Between); Mindestens um einen fünften Duft (Dark Vanilla) schleiche ich herum.
Urban Scents ist ein Familienunternehmen. Marie Le Fèbvre aus Paris war als Parfumeurin, Alexander Urban aus Wien als Manager für die großen Kosmetikfirmen der Welt tätig; sie kündigten, heirateten und gründeten Urban Scents. Geschäfts- und Wohnsitz des überaus sympathischen Paares, wurde, natürlich, Berlin.
An der Marke liebe ich die unverwechselbare Handschrift der Meisterin, deren Kreationen immer leicht und voller Leben und Heiterkeit, fast möchte man Humor sagen, sind. Sie bleiben gleichermaßen fern von angestrengter Verkopftheit und schrillen Effekten und bestechen durch einen sagenhaft verspielten Facettenreichtum. Sie halten die perfekte Balance zwischen augenzwinkernden Überraschungen und kleinen Dissonanzen auf der einen sowie Ausgeglichenheit und exzellenter Tragbarkeit auf der anderen Seite.
Dazu kommen, unter anderem, eine überaus angenehm zurückhaltende Emissionspolitik - eine Art Slow Perfuming -, wundervoll wertige Flakons, gelungene Namen und eine auch sonst schöne Präsentation.
TEGEL VS. TEMPELHOF
Neben ihrer Liebe für Düfte (und wie anzunehmen ist: füreinander) verbindet das urbane Paar auch die fürs Fliegen, weshalb das Firmensignet auch ein Propeller ist. Auch zu Berlin haben sie augenscheinlich eine Zuneigung, sonst wären sie wahrscheinlich nicht hierhergekommen. Trotzdem ist es alles andere als selbstverständlich, dass sie dem neuen Berliner Flughafen - BER - einen - diesen - Duft gewidmet haben.
Ich finde das hochsympathisch (denn ich mag den neuen Flughafen), marketingtechnisch ist es aber gewiss so vielversprechend wie einen Duft nach Wirecard oder VW-Diesel zu benennen. Der Flughafen, dessen Eröffnung sich um etwa 10 Jahre verzögerte, vor allem weil die Planer anscheinend davon ausgegangen waren, dass Rauch absinkt statt aufzusteigen (aus ästhetischen Gründen wollte man keine Schornsteine und konzipierte die Entrauchungsanlage so, dass im Brandfall der Rauch nach unten gesaugt wird - brillante Idee!), hat ja nicht unbedingt ein gutes Image.
Ironie: Nachdem man jahrelang darüber genörgelt hatte, dass die Bauverzögerung so lange anhielt, dass der Flughafen bei Eröffnung schon völlig unterdimensioniert sein würde, ist er nun wegen der Pandemie nur zu 10% ausgelastet.
NATUR VS. LABOR
Urban Scents steht zwar für Nische im allerbesten Sinn, für Handarbeit im Atelier, für Kunst und Handwerk, aber nicht unbedingt für Bio, Fair Trade und vegan. Die Meisterin bedient sich bei Bedarf auch souverän künstlicher Duftstoffe. Dennoch dürfte BER Cavok der synthetischste Urban sein, den es gibt. Nicht ganz fernliegend von der Idee her: ein Luftdrehkreuz ist ja auch kein Kuschelzoo.
Der zwar heftig changierende, aber im Gesamtverlauf völlig lineare (konstante Reiseflughöhe!) Duft riecht so, wie ihn die angegebenen Duftnoten vorzeichnen. Nach der bloßen Lektüre der Noten hatte ich keinen Duftidee in der Nase. Riecht man den Duft aber live, werden auch die Angaben völlig plausibel.
BER Cavok imponiert in allererster Linie durch wirklich schöne, kräftige mineralische Noten (eine Duftnuance, die ich sehr liebe, aber als sehr selten empfinde, ich musste hier an unbekannte Lieblinge von mir wie Diplomat Classic von Astrid und das durch die Zitrik letztlich in eine ganz andere Richtung gehende Laguna von Harry Lehmann denken). Vielleicht sollen sie für den märkischen Sand stehen, auf den der Flughafen gebaut ist.
Dazu kommen eine satte Dosis Calone, das für eine leicht versch(r)obene, unklar gewürzte, Aquatik verantwortlich zeichnet; eine ätherartige Ozonik, bei der mir Mirage (nicht der Kampfjet von Dassault, der Duft von Harry Lehmann) in den Sinn kommt und zuletzt ein guter Schuss Moschüsse. Obwohl der Duft ja CAVOK, also "Sichtverhältnisse in Ordnung", heißt, ist der Himmel über Berlin nicht kristallklar: Feine Schleier allüberall.
Ein Geniestreich ist es dann, dieser geballten Ladung Chemie einen erznatürlichen Kontrapunkt entgegenzusetzen, den Duft des Berliner Haupt- und Staatsbaums, der Linde(nblüte). Sie begegnet uns hier in einer unsüßen, fast herben Varietät.
Der Duft ist wie alle Kunstwerke Marie Le Lèbvres nicht laut, aber er ist doch gut vernehm- und - kein Wunder bei so viel Synthetik - sogar sehr ordentlich haltbar.
ZUNEIGUNG VS. SKEPSIS
Vor etwa zwei Jahren testete ich diesen Duft erstmals, kurz nach Erscheinen, im schönen Ladengeschäft in der Bleibtreustraße und war ein wenig skeptisch. Vor ein paar Tagen bekam ich ein Pröbchen in die Hand: die Skepsis blieb zunächst.
Aller Begeisterung für die Marke, die Künstlerin, die Stadt und den Flughafen zum Trotz würde (und wird) das sicher nicht mein Lieblings-Urban werden; mir liegt so viel Modernität in Düften einfach nicht (obwohl ich meiner Frau neulich, einer Empfehlung des leider derzeit verstummten Fittleworth folgend, Inception von Zarkoperfume geschenkt habe, das mir inzwischen auch sehr gut gefällt).
Andererseits komme ich BER Cavok, das ich jetzt schon fast den ganzen Trag trage, offenbar immer näher; der Duft öffnet sich mir zusehends. Ich bin von 7,0 über 7,5 nun schon bei 8,0 angelangt. Da dies auch die Spontanwertung meiner Kopilotin war, lande ich hier punktgenau und lasse mich nicht auf die Möglichkeit eines weiteren Steigflugs ein.
Wenn es auch nicht mein Lieblingsduft wird, freue ich mich aber sehr, dass BER Cavok andere hier (noch) mehr begeistert: Der feine Kommentar von Favea sei ausdrücklich zur Ergänzung empfohlen.