Einst lebte in einem prunkvollen Schloss, ein junges Burgfräulen. Selbst aus dem Adelsgeschlecht – wenn auch einem niederen – stammend, diente sie der Burgherrin. Besagtes Burgfräulein ging ihrer Herrin gerne zur Hand, denn diese war eine unkomplizierte Person, wenngleich sie auch gerne dem Luxus frönte. Aber das störte das Burgfräulein nicht besonders, denn oft durfte sie diesen Überschwelg auch erleben: Kleider probieren, mit der Burgherrin zusammen dinieren und sogar mit ihr – und auch anderen Zofen – den neuesten Klatsch und Tratsch führen, ging es nun um Geschehnisse innert der Schlosswände, als auch außerhalb. Sie genoss die Freundlichkeit ihrer Herrin, deren Gatten und aller anderer Diener und Mägde und Bauern. Denn es gedieh der Wohlstand. Die Götter ließen Feld und Wiese saftig wachsen. Niemandem fehlte es an etwas. Dieser Umstand ließ aller Leute Sorgen vergessen, zumal es diese zur Zeit gar nicht gab. Alle waren nett der Worte und froh der Sinne.
Eines abends – man saß wieder vor einer reichhaltigen Tafel – wurde erzählt, ein Drache wäre in der Nähe des Schlosses gesehen worden. Man überlege schon und schmiede Pläne, wie man diese Kreatur denn am besten beseitigen könne. Denn solch ein Tier bringe Unglück, ja gar Tod und Verderben über das Schloss und deren Wohlstand. Dem Burgfräulein wurde bang zumute. Ganz bleich wurde ihr Gesicht, beinahe verschluckte sie sich an ihrem Bissen.
„Drachen?“ sprach sie mit dünner, zittriger Stimme „so ein Unsinn! Das sind doch nur Ammenmärchen; solch Getier existiert doch gar nicht!“
-„Oh doch, habe ich doch so eine Kreatur erst gestern um die Schlossmauern schleichen gesehen! Ja, mit meinen EIGENEN Augen!“ mahnte der Schlossherr. „Oder wie nennt Ihr solch ein riesiges Wesen, mit schuppiger Haut von Kopf bis Zeh, wie ein Reptil. Es hatte Flügel und schnaufte bei jedem Schritt!" Aufrufe und wildes Gemurmel machten sich im Saal breit. Alle begannen durcheinander zu diskutieren. Das Fräulein wusste darauf nichts mehr zu erwidern und machte sich still hinauf in ihr Gemach welches ganz zu oberst in einem Türmchen lag. Dort setzte sie sich ans Fenster und genoss die Landschaft, welche von der untergehenden Sonne in gold und in tiefes rot getaucht wurde. Warme Windzüge spielten sanft mit Haarsträhnen, tief sog sie die warme, frische Luft ein, ständig Ausschau haltend nach ihm, Baldur – IHREM Drachen.
Denn der Grund, wieso sie beim Abendmahl so entsetzt war, war nicht die Tatsache, dass ein Drache das Schloss mitsamt seinen Schätzen etwa einnehmen wollte, sondern, weil sie diesen Drachen kannte, ja, sogar liebte. Fast täglich holte er sie nach Einbruch der Dunkelheit ab, wenn es sich die Schlossbewohner in ihren warmen Stuben gemütlich machten, und niemand mehr einen Blick auf sie beide haschen konnte, und flog auf ihm durch die Lüfte, in entfernte Regionen. Er zeigte ihr die schönsten Plätze, an denen sie ruhen und die Sterne beobachten konnten. Doch scheinbar haben sie den Burgherren – der manchmal unter Schlaflosigkeit litt – auf sie aufmerksam gemacht. Sie konnte nur von Glück sprechen, dass er sie nicht bemerkt hat. Sie konnte ihrer Herrin auch unmöglich gestehen, dass doch nichts Schlechtes in ihm steckte, war er doch voller Güte und Anmut. Alle würden denken – sobald etwas Schlimmes passieren würde – er hätte etwas damit zu tun, oder gar: sie würde mit ihm gemeinsame Sache machen, und dann würde man sie beide töten wollen. Sie war verzweifelt, weil sie nicht wusste, was sie zu tun gedenken sollte. Ihn böse fortschicken? Sie wolle ihn nie wieder sehen? –das konnte sie nicht! Liebte sie doch die Zärtlichkeiten, die sie austauschten. Es war nämlich ihr Ritual, dass, wenn sie sich trafen, sie ihm eine Rose schenkte, welche sie zuvor frisch aus dem Hofgarten pflückte; denn der Drache liebte den Duft dieser wunderschönen Pflanze. Doch wuchsen in seiner Höhle, in der er lebte, nun mal keine. So konnte er, nachdem sie sich verabschiedeten, in seiner Unterkunft den Duft der Rose genießen, während er an die Seinige dachte. Und bis sie verwelkt war, ward ihm schon die nächste Blüte geschenkt. Und sie? Sie bekam eine Schuppe geschenkt. Seine Haut war durch diese unverwundbar für alle von Menschenhand gefertigten Waffen, doch wollte er mit seiner nunmehrigen Verletzbarkeit beweisen, wie sehr er sie mochte. Diese verwundbare Stelle zeigte nun seine knallrote Haut. Sie liebte den Duft seiner Schuppenrüstung. Denn auf ihr sammelten sich all die wunderbaren Gerüche des Waldes: das Harz der Stämme. Vom Sturm entwurzelte Bäume, die durch den Zahn der Zeit nun immer mehr morschten. Blätter und Pilze die durch die Feuchtigkeit der Taunässe des Herbstes, anfingen, den typischen leicht modrigen Geruch zu verströmen. Ja, förmlich hörte sie die Äste knacken, wenn er durch die Wälder strich. Dieses Stück von ihm bewahrte sie unter ihrem Kopfpolster, so träumte sie täglich von ihm und hatte dabei den Duft des Waldes in der Nase.
Wie verabredet kam er auch heute Nacht, krallte sich am Türmchen fest und schaute erwartungsvoll in ihre Kammer. „Wieso so traurig, liebste Margoth?“ wehte ihr seine Stimme ums Gesicht. Sie berichtete ihm, welche Nachricht sie heute beim Abendmahl gehört. Baldur nahm sie vorsichtig mit seiner Pratze und nahm Platz auf seinem Rücken, so wie immer, wenn sie ihre Ausflüge zelebrierten.
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Als sie zum Flug ansetzen nahmen die beiden plötzlich Geräusche und Stimmen wahr. „BOOOOGENSCHÜTZEN“ rief der Hofherr das Kommando, der auf der Lauer lag, um das Untier zu besiegen. Ein Pfeilregen prasselte auf den Drachen. Die Bogenschützen setzen zu ihrem zweiten Angriff an. Auch diese Pfeile konnten dem Drachen nichts anhaben. Baldur wollte sich gerade in die Lüfte erheben, als ein besonders guter, hofbekannter Bogenschütze seine Schwachstelle ausfindig machte. Der Pfeil verfehlte sein Ziel nicht. Ein lauter schmerzverzerrter Aufschrei; der Drache konnte sich nicht bändigen; eine vernichtende Feuerfontäne folgte. Kreischende Bewohner rannten wie Wahnsinnige umher, weitere Pfeile, noch mehr Feuer. Bereits stand alles unter Flammen. Margoth konnte noch gar nicht fassen was passierte, als sie in einem Sturzflug fiel. Ein dumpfer Aufprall machte sie bewusstlos; so lag sie nun, auf ihrem Liebsten, hörte ihn weit entfernt seine letzten Atemzüge schnauben. Ein letztes Mal sog sie Baldurs warmen, herrlichen Duft ein, gepaart mit etwas... Rauch... „Der Geruch bedeutet nichts Gutes...“ waren ihre letzten Gedanken, bevor sie und ihr Liebster für immer entschliefen; und mit ihnen starb ein ganzes Königreich.
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Alternatives Ende (für die jenigen, die sich ein schönes Ende wünschen / denen der Ausgang zu brutal ist):
Als Margoth es sich zwischen seinen Schwingen gemütlich gemacht hatte, flogen sie los. Irgendwo in die Wälder, wo sie unbeschwert für immer vereint waren...
Die Hofleute konnten sich Margoth’s plötzliches Verschwinden gar nicht erklären, sie war wie vom Boden verschluckt. Allerdings munkelte man, sie wäre von dem Drachen, der nach ihrem Verschwinden ebenfalls nie wieder auftauchte, entführt worden. Andere behaupteten, sie wäre freiwillig mit ihm gegangen, denn man sah manchmal ein freudiges Feuer in ihren Augen aufblitzen.