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vor 4 Jahren - 07.07.2020
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MOL Intense oder die märkische Camargue

Obwohl ich ja hier den Ruf eines knallharten Lehmannisten habe, gibt es auch einige Harrys, die mir nicht gefallen. Einen gibt es auch, den ich nicht rieche, nämlich MOL Intense. Vermutlich bei meinem allerersten Besuch im papierblumengeschmückten Dufttempel in der Kantstraße hielt man mir den vor die Nase und ich dachte, ich sei hier in der versteckten Kamera und man gäbe mir Wasser zu riechen. Es soll wohl mehr oder weniger reines ISO-E-Super sein, und mein Riechsystem hat (oder hatte damals) dafür anscheinend einen blinden Fleck.

Mein MOL Intense ist dafür das Oderbruch.

Eigentlich habe ich eine Schwäche für den ganzen Landkreis Märkisch-Oderland (Autokennzeichen MOL), der wie ein Tortenstück aussieht, dessen Spitze die östlichste Ecke Berlins, nämlich Mahlsdorf, berührt und dessen radiales Ende dann die polnische Grenze ist, zwischen Bad Freienwalde im Norden und Lebus (früher eine bedeutende Stadt und Bischofssitz, heute ein Dörfchen) im Süden. Frankfurt (Oder) gehört schon nicht mehr dazu, weil kreisfrei. Zu MOL gehört dafür zum Beispiel noch die wunderbare Märkische Schweiz.

Aber sogar diese verblasst gegen MOL Intense, gegen den schönsten Streifen Märkisch Oderlands, eben das Oderbruch. Diese Landschaft erstreckt sich etwa 60 Kilometer lang von Norden nach Süden entlang der polnischen Grenze, die auf der gesamten Länge von der Oder markiert wird. In Ost-West-Richtung ist das Oderbruch nur etwa 15 Kilometer tief, es ist also ein recht längliches Rechteck, das an die Oder gepappt ist. Die Oder war übrigens früher nicht nur ein preußischer Binnenfluss, sondern sogar ein märkischer, denn die preußische Provinz Mark Brandenburg ging auch noch rechts der Oder ein Stückchen weiter.

Das Oderbruch ist von berückender Schönheit für alle, die ruhige, friedliche, schlichte Landschaften lieben, die aber nicht öde und monoton sind. Es wirkt sehr natürlich, manchmal urtümlich, denn es ist zwar eine Kulturlandschaft (fast eine Art Park), aber eine altehrwürdige, gut gepflegte, mit Geschmack und Sinn für Proportionen angelegte, eine die alte Siedlungsstrukturen aufgenommen hat - und eine ziemlich menschenleere dazu.

Die Landschaft ist ein Tiefland, meist nur etwa 1 Meter über dem Meeresspiegel gelegen; Erhebungen gibt es kaum. Langweilig ist sie aber nicht, weil die Felder kleinteilig sind und überall anderes angebaut wird, weil die Wege nicht schnurgerade sind und fast immer Alleen, wegen der vielen Wäldchen und der schönen Dörfer mit ihren Kirchtürmen.

Sie war einst ein Binnendelta der Oder: wegen der Tieflage und der nur minimalen Höhenunterschiede teilte die Oder sich in etliche Teil-Läufe auf, die auch immer wieder ihre Position änderten; im Grunde also ein Überschwemmungsgebiet von 60 Kilometer Länge und 15 Kilometer Breite. Die Fische und Frösche konnte man seinerzeit praktisch mit bloßen Händen fangen, und Störche muss es so viele gegeben haben wie heute in ganz Deutschland.

1735 begann die Umgestaltung des Oderbruchs, forciert dann 1742 bis 1760 unter Friedrich dem Großen, der hier "eine Provinz für Preußen gewinnen" wollte "ohne einen Schuss abzugeben". Durch ausgeklügelte Entwässerungssysteme, an denen die größten Mathematiker der damaligen Zeit mitarbeiteten, wurde das Bruch weitgehend trockengelegt. Den Höhepunkt bildete die Schaffung eines neuen Oderlaufs in der nördlichen Hälfte der Landschaft, dafür musste (ohne moderne Maschinerie) ein höher liegendes Gelände durchschnitten werden. So gesehen ist die heutige Oder auf über 20 Kilometer Länge eigentlich ein Kanal und kein Fluss.

Ohne fortlaufendes hydrologisches Management würde das Bruch irgendwann wieder vollaufen. Und auch die Oder ist nie völlig gezähmt worden. Im Winter 1947 ereignete sich die letzte Großkatastrophe, als verkeilte Eisschollen den Fluss aufstauten und ihn über die Deiche treten ließ. Die nächste wurde 1997 anlässlich des "Jahrhunderthochwassers", das die Deiche schon durchlässig und weich wie Pudding gemacht hatte, nur um Haaresbreite verhindert (ein Freund von mir hat beim Sandsäckebefüllen mitgeholfen).

Ob die "neu gewonnene Provinz" die Mühe wirtschaftlich und demografisch wert war, darüber mag man streiten. Im Laufe der Zeiten blühte das Oderbruch manchmal wirtschaftlich auf, und manchmal führte es ein Schattendasein. Die (sehr kleinen) Kolonistendörfer sind heute jedenfalls fast alle wunderbar herausgeputzt, und es ist eine Freude, durch sie hindurchzuradeln oder in ihnen spazierenzugehen. In einigen von ihnen kann man die Kirche oder ein kleines Heimatmuseum besichtigen, und ab und an findet man auch eine nette Erfrischung wie im allerliebsten Kolonisten-Kaffee in Neulietzegöricke. Der Gründungsmythos des Oderbruchs lebt, und der Alte Fritz ist überall präsent, am prominentesten in Gestalt des wirklich hübschen und gar nicht protzigen oder kriegerischen Denkmals in Letschin, das zu DDR-Zeiten eigentlich eingeschmolzen werden sollte, aber von einem königstreu gesonnenen Dörfler in der Nacht vor der geplanten Demontage geklaut und bis zum Fall der Mauer in irgendeiner Scheune versteckt wurde.


Touristische Großattraktionen hat das Oderbruch keine aufzuweisen. Als "neue" Landschaft kann es keine Burgen und Schlösser haben, Städte hat es auch keine, und moderner touristischer Schnickschnack im Stil von Hallenskifahren und Bungeejumping hat bislang keinen Einzug gehalten. Das eine oder andere Nischeninteresse insbesondere historischer Art mag bedient werden, etwa die Festung Küstrin mit ihrer wechselvollen Geschichte und die (allerdings schwerpunktmäßig schon außerhalb des Bruchs liegenden) Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs (Seelower Höhen) und einige ebenfalls nicht mehr zum eigentlichen Bruch gehörige Plätze wie das Städtchen Neuhardenberg und die Komturei Lietzen.

Was man aber tun kann, ist radfahren, radfahren, radfahren, spazieren, spazieren, spazieren, und wenn man eine nette Unterkunft gefunden hat (was nicht so leicht ist; ein richtiges Hotel im eigentlichen Oderbruch kenne ich eigentlich nicht, es gibt aber Pensionen) kann man viel lesen, schlafen und meditieren. Und direkt an der Oder, auf der Nord-Süd-Linie praktischerweise genau in der Mitte, in Zollbrücke, hat sich neben einem Ziegenhof (mit Besichtigungsmöglichkeit) und dem wohl ambitioniertesten Restaurant im Bruch, der etwas gehobenen "Dammmeisterei" auch das kultige "Theater am Rand" (nebst "Randwirtschaft") etabliert, zu dessen Vorführungen inzwischen sogar Busladungen von weit her kommen sollen.

Das Theater passt zu der Beobachtung, dass eine neue (kleine!) "Siedlerwelle" ins Oderbruch rollt: Berliner Aussteiger, Künstler und Naturfreunde. Und sie scheinen von den Alt-Brüchern nicht schlecht aufgenommen zu werden, jedenfalls bemüht man sich: In einem schmucken historischen Gemeindehaus mit "Co-Working-Space" (!) in Letschin wird (unter Mitwirkung einer Art von Sozialarbeiter oder Gründungs-Scout, der auch frisch aus Friedrichshain entsprungen sein könnte) Werbung für "Neusiedlerseminare" gemacht.

Ich fühle mich in Berlin noch ganz wohl, aber ich kann diejenigen verstehen, die es ganz ins Bruch zieht. Was ich kaum verstehen kann, ist dass dieser wundervolle Flecken Land vom Tourismus noch so wenig berührt ist, obwohl er in einer Stunde von Berlin aus mit dem Zug oder Auto zu erreichen ist. Und ich persönlich finde, auch wenn die Fahrten von Dorf zu Dorf durch die Alleen, entlang der prächtigen vielfätigen Felder (mit ökologisch erfreulichen breiten Ackerrandstreifen mit allerlei Blumen und Kräutern) ebenfalls sehr schön sind: Das Beste ist die Oder: Sie ist zwar auf deutscher Seite hoch eingedeicht, fließt aber innerhalb bzw. jenseits des Deichs unreguliert in einem breiten Bett, schlängelt sich hierhin und dahin, es gibt Schilffelder, Nasswiesen, Schafe, Ziegen, und vor allem Vögel, Vögel, Vögel: Für "Ornis" muss das ein wahres Paradies sein: von zahllosen kleinen Arten bis hin zu Greifvögeln und Störchen (und im Winter Kranichen) queren sie den Fluss scharenweise (und unabhängig von Schengen ganz ohne Grenzkontrollen) von Ost nach West, West nach Ost und fliegen vor allem längs des Flusses. Da könnte ich stundenlang zuschauen und den Schreien der Vögel und dem Rauschen der Bäume und des Schilfes zuhören.


Das eigentliche Oderufer zu genießen wird dadurch vereinfacht, dass der Oder-Neiße-Radfernwanderweg parallel zur Oder führt und auf einige Kilometer sogar auf der Deichkrone (mit perfekter Aussicht über den Fluss nach Polen ebenso wie ins Innere des Oderbruchs). Das ist für mich die märkische Camargue!

Natürlich wird das Oderbruch sich weiterentwickeln; nichts steht still. Die Grundstückspreise zum Beispiel haben sich in den letzten 15 Jahren wohl schon verzehnfacht. Es wird Veränderungen zum Guten und zum Schlechten geben. Was ich hoffe, ist, dass ästhetische und ökologische Katastrophen wie die (zeitweise angedachte) mittige Durchschneidung des Oderbruchs durch eine neue Autobahn nach Polen unterbleiben. Und dass aus MOL Intense zwar kein Touristen-Disneyland wird, dass aber trotzdem mehr Besucher kommen, die seine Schönheit genießen. Dazu würde vielleicht auch beitragen, wenn auch außerhalb des Fernradwanderwegs mehr spezielle Radwege gebaut würden und wenn sich eine eigene "Oderbruch-Identität" mit einem eigenen Logo, einem einheitlichen Vermarktungskonzept und gemeinsamen Angeboten herausbilden würde. Bisher sind die verschiedenen Teile des Oderbruchs nämlich verschiedenen "Ämtern" (so heißen in Brandenburg die Gemeindeverbände unterhalb der Kreisebene) zugeordnet, und einen Zweckverband gibt es, soweit ich weiß, nicht.

Parfüms gibt es im Oderbruch kaum. Es riecht aber schön nach Wasser, Blumen und frisch gemähtem Gras, und punktuell nach Ziege und Schaf. Das ist ja auch nicht das Schlechteste.

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