Eine wunderbar klassisch-moderne Interpretation eines Lakritzduftes. Mit leichten Parallelen zu Guerlains‘ einem Jahr früher erschienenen „L‘Instant de Guerlain“. Aber ausschließlich konzentriert auf den Lakritzton. Darin clean und schnörkellos.
Kein Gourmand. Ein eleganter Herrenduft. Der Lakritzeindruck ist anißig und leicht boozy (wie Aniß durch seinen Bezug als aromatisches Element in alkoholischen Getränken erscheinen kann). Gesüßt, aber nicht zuckrig. Darin eingewoben eine dezente, frischherbe, veilchenähnliche Blumigkeit und ein ebenso zurückhaltender, leicht abgedunkelter Holzton - an Teakholz erinnernd. Ein wohlriechender Gesamteindruck. Obwohl die Lakritznote kräftig ist, behält sie durch die Aniß-Ätherik, die Veilchenfrische und eine - in meiner Nase - ordentliche Portion Iso E-Super eine durchgängige Transparenz, Luftigkeit und leichte Schärfe, die das Eau de Toilette nie erdrückend macht. Das synthetische Molekül verhilft dem wunderbar unaufdringlichen Duft in den ersten zwei bis drei Stunden zu einer guten Projektion und lässt ihn darüber hinaus in der Abstrahlung deutlich weicher erscheinen als man es aufgrund des Eindrucks direkt auf der Haut vermuten würde. Im Verlauf wird er zügig zu einem Skinscent und ist nicht viel länger als fünf Stunden wahrnehmbar. Ein Oversprayen ist meiner Erfahrung nach nicht möglich.
Insgesamt auf allen Ebenen ein gentlemenhafter Duft. Eine zeitlos-moderne, männlich-charmant-elegante DNA - in etwa so klassisch-modern wie die des Terre d‘Hermès (und mit fast ebenso viel Iso E-Super meiner Einschätzung nach). Dieser Eindruck wird durch die ausgesprochen klare und wohl proportionierte Flakonform unterstrichen. Die Farbe des Parfums wäre aus meiner Sicht mit einer violetten Farbe besser getroffen, obwohl die ambrige „Whiskeyfarbe“ durchaus ins Gesamtbild passt. Neben der Haltbarkeit merkt man lediglich am Sprayer, dass es kein hochpreisiger Duft ist. Dieser arbeitet mit wenig Druck und einer recht diffusen Streuung, aber völlig ausreichend.
Nochmal zum Vergleich mit dem L‘Instant: Vom Notenbild her teilen sie zwar viele Gemeinsamkeiten (Sternaniß, Kakao, Patchouli, Zeder, Jasmin), ähneln sich im Duftbild jedoch nur beim Lakritzton sehr. Dabei ist der Avon etwas süßer angelegt. Zudem durch Iso E frischer und luftiger, sowie statt von trockenem Kakao-Patchouli von einer dezenten, dunklen Holzigkeit unterfüttert. Während der Guerlain viele seiner Bestandteile gleichmäßig betont, steht beim Avon klar der gesüßte, lakritzig-alkoholische Anißton im Vordergrund.
Gekommen bin ich auf ihn über die Bemerkung in einem YouTube-Review, dass er dem von mir so gemochten „Reveal Men“ von Calvin Klein gleichen soll, was ich allerdings nicht bestätigen kann. Es gibt eine Übereinstimmung in der Lakritznote - die im Reveal jedoch deutlich zurückhaltender ist - und der stark synthetischen Anlage, darüber hinaus ist der Calvin Klein-Duft viel facettenreicher und ohne klassische Tendenzen angelegt. Die starke Artifizialität ist für die geübte Nase hier gut zu erkennen, aber nicht kratzig oder eine unschöne Entwicklung im Drydown nehmend. Ein sehr gefälliger Duft, ohne sich anzubiedern. Ihm fehlt lediglich etwas innere Bewegung, eine echte Seele. Er dient rein zum angenehmen Duften. Ich trage ihn sehr gerne.
Aus meiner Sicht eines der sehr gelungenen Beispiele, dass gute Düfte nicht teuer sein müssen.
Anmerkungen:
Der Duft gewann 2006 den FiFi-Award („Duft-Oscar“) für den besten Herrenduft des Jahres in der Kategorie „Populäre Düfte“. Ebenso wie z.B. 2008 Armani Privés „Vetiver Babylone“ bzw. "Vetiver d'Hiver" in der Kategorie „Luxusdüfte“. Beide gleichen sich in der sehr cleanen, gepflegten, leicht traditionellen Anlage, die durch einen Synthetik-Vibe zeitlos modern gehalten ist. Und sie sind meiner Meinung nach außergewöhnlich gut abgestimmt. Sie wirken unheimlich selbstverständlich und in sich stimmig.
Rezensionsgrundlage war die Ursprungsversion aus dem Jahr 2005. Diese wurde eingestellt und 2014 unter gleichem Namen noch einmal veröffentlicht, teilt aber den Notenangaben und Beschreibungen nach zu urteilen, keine Gemeinsamkeiten mehr mit dem Original. Jenes ist online jedoch noch zu günstigen Preisen zu bekommen (aktuell etwa 20 €/75 ml).