Siebenkäs
23.10.2020 - 12:40 Uhr
29
Top Rezension
9Duft 8Haltbarkeit 7Sillage 9Flakon

Subversion

Sie standen im Hof herum in ihren grauen Filzgewändern,
wieder mal, einer angelehnt an den andern, schweigend,
wartend.
Die Wände der Häuser waren grau, ebenso die Läden der
Fenster, die Rahmen und die Türen. Grau waren das Pflaster
und die kleinen Mauern, die Bänke vor den grauen Park-
flächen und grau auf grau die Schriftzüge auf den Verbots-
schildern. Grau waren die Kübel, in denen graue Bäumchen
standen und grau war auch die Ausfahrt, die hinausführte
in die weite, sanft grau schimmernde Landschaft.
C11 legte die Hand auf seine Jacke und fühlte die feste,
runde Form des Flakons. Mit einem Mal sah er ihn vor sich,
er brauchte ihn gar nicht hervorzuholen. Ein vollkommener
Fremdkörper. Zylindrisch, lachsfarben oder rosè, vielleicht
auch mauve. Er kannte viele solcher wunderbaren Farb-
namen aus den Verbotenen Büchern. Und warm schien er
zu sein, als ob ein Herz in ihm klopfte.
Mit einem Mal trat die Wirkung ein. Der Duft, den sie erst
vor wenigen Minuten aufgetragen hatten, begann ihn
emporzuheben. Erst nur ein kleines Stück, dann mehr,
über den grauen Boden hinweg, hinüber auf die Andere
Seite.
Was ihn trug, sicher und zuverlässig, war eine sonderbar
vertraute Melange aus warmen Gewürzen, ein leicht
süßer Odem aus Küchenglück und Kräutergeheimnissen,
aus liebevollen Backgeheimnissen und altem Großmütter-
wissen. Eine bräunlich-orange-farbene Welt, in der er sanft
geborgen ruhte, ohne zu wissen wo er eigentlich war.

Jetzt erst bemerkte er gar nicht weit von sich M24, die in
in ihrer eigenen kleinen Duftwolke unterwegs war.
Er wusste, dass es ein etwas anderer Zauber war, der sie
emporhob, vergleichbar vielleicht mit einem anderen,
nicht weniger mächtigen Treibstoff. Er kannte diese Spiel-
art des Elixirs fast ebenso gut wie seine bevorzugte, die
würzigwarme. Für sie war es diese gewisse, seltsam
aufmunternde Frische, die sie mitnahm. Eine Frische,
die sie gleichzeitig an Rasierrituale ihres Vaters erinnerte,
und die etwas Blau-Grünes mit sich trug, in der aber auch
sanft goldene und ocker-farbene Dufttöne schwebten.
Und die sie zurückführte zu längst vergangenenen
Schulwegen, auf denen das einzig Erfreuliche ein kleiner
roter Kaugummiautomat war. Die irgendwie verboten
wirkende süßfrische, künstliche Minzigkeit der bunten
Kaugummikugeln liebten sie beide. Genauso wie die
tröstliche Kraft von Gewürznelken und diese nicht direkt
greifbare, zart-elegante Süße, die zugleich an Blumen
und an einfache Kinderdessertfreuden erinnerte.
Etwas pudrig-schwebendes war es, etwas zugleich
Leichtes und Schweres, das die Macht besaß, sie aus dem
Grau zu entführen.
Ob derjenige, der sie mit dem machtvollen Stoff, versorgte
sich in große Gefahr begab, kümmerte sie wenig.
Auch nicht, ob etwas ganz anderes dahinterstecken
könnte.
Es interessierte sie auch nicht sonderlich, dass er ihn
„Spice Blend“ nannte. Sie nannten ihn nur „Blend“ -
weil es so schön klang. Und weil sie so geblendet waren
von den Farben der Anderen Seite. Aber auch, weil es
einfach so wunderbar freundlich klang.
Und gewiss war das kein verkehrter Name für etwas,
das Ihnen sanft wie mit einer weichen Blende immer
wieder den Zugang zu einer anderen Welt öffnete.
Einer Welt, die Ihnen immer wieder die Gelegenheit gab,
jemand ganz Neues kennenzulernen.
Sich selbst.
Und so kehrten sie jedes Mal ein wenig stärker und
gelassener zurück. Das Grau schien ihnen etwas weniger
eintönig und bedrückend zu sein, sie konnten mit einem
Mal feine Unterschiede feststellen. Und so begannen sie
ihm Namen zu geben – steingrau, feldgrau, mausgrau,
alteisengrau und haargrau, holzgrau, hautgrau, lichtgrau
und blattgrau.
Nach jeder Reise auf die Andere Seite mit ihrer Doppel-
bödigkeit aus wärmender, süß-tröstlicher Würze und
selbstbewusster Frische, die etwas antiautoritäres, fast
subversives hatte, fanden sie das Grau weniger mono-
chrom, weniger farblos, weniger intensiv.
Und in gleichem Maß erschien ihnen auch die Andere
Seite ganz allmählich ein wenig blasser zu werden.
Es war, als ob die Schalen einer Waage sich langsam
auspendelten.
Und so wanderten sie nach Bedarf hin und her und
wurden älter und zufriedener, ruhiger und behäbiger.
Nach und nach wurden die Kontraste zwischen den
Welten weicher und verschwommener, wie die Bilder
in einer nicht enden wollenden Überblendung.
Herein aber schlich sich ein glattes, unauffälliges grau-
gewandetes Wesen - das Vergessen.

Und der große TJB23, seines Zeichens drittgrößtes
algorithmisches Kernwesen, lehnte sich zufrieden
zurück. Ja, zufrieden konnte er wohl sein, denn einmal
mehr hatte er ein Leck schließen können, aus dem nur zu
gern unberechenbare Wünsche entweichen konnten.

Und doch, unbemerkt, unscheinbar und
verborgen, blieben sie noch, geduldig wartend -
die unbegangenen Wege, ungefühlten Gefühle und
ungeträumten Träume.
23 Antworten
AlysanneAlysanne vor 5 Jahren
Dieser Kommentar ist so anders und so *gut*, wirklich fantastisch und faszinierend. Habe ich sehr, sehr gern gelesen!
MonsieurTestMonsieurTest vor 5 Jahren
Superb fabulierter Kommentar.
Bin ja großer Fan von Graustufen-Unterscheidungen; ziemlich genial, wie Du solche im Parfum-Wahrnehmungs-Raum-Zeit-Kosmos verortetst...
FvSpeeFvSpee vor 5 Jahren
1
Möglicherweise war ich gerade auf der anderen Seite oder das Vergessen hat mich heimgesucht, als dieser Kommentar erschien. Hab ihn jetzt zufällig entdeckt. Danke für die Kunst, die du uns kleinem, bescheidenen Publikum hier auftischst!
NanuNanu vor 5 Jahren
Wow. Umwerfend. Wortmagie. Danke für diesen Ausflug.
SonnenwendeSonnenwende vor 5 Jahren
Ich möchte nicht aufhören zu lesen...was für ein grandioser Kommentar!!! Danke dafür :-).
TomskiTomski vor 5 Jahren
Ich staune leicht neidisch wie anschaulich leidenschaftlich man an einen Duft beschreiben kann. Hut ab
CravacheCravache vor 5 Jahren
Fantastisch, dieses ganz eigene Bild vom Duft. Hochinteressant in der Form, wie Du es transportierst.
ParmaParma vor 5 Jahren
Diesmal kann ich die hypertextuellen Bezüge nicht herstellen, aber dieser humanistisch durchdrungene Kommi ist wieder unglaublich stimmungsvoll, aufgeladen mit Bedeutung und wunderbar verwoben mit einer sehr genauen Duftbeschreibung. Eine eigene, wundervolle Kommentarform!
ToppineToppine vor 5 Jahren
Wahnsinn - Blade Runner Dystopien perfekt eingefangen! Und trotzdem schimmert da etwas, was mich auf ein wie auch immer geartetes Happy-End hoffen lässt.....Ganz ganz große Kunst, dieser Kommentar!! (Den Duft mag ich übrigens auch..)
JackoJacko vor 5 Jahren
Groß. Erinnert mich an Ende/Momo: Die grauen Herren.
Melisse2Melisse2 vor 5 Jahren
Großartiger Text. Ich sollte es vielleicht doch nochmal mit einem Bay-Rum-Duft probieren.
0815abc0815abc vor 5 Jahren
Wunderbar berührend und tröstlich.Küchenglück und Kräutergeheimnisse haben übrigens etwas geradezu meditatives.
FittleworthFittleworth vor 5 Jahren
Wunderbar! Ein wunderbarer Kommentar!
FlirtyFlowerFlirtyFlower vor 5 Jahren
Dieser Kommentar entspricht fast schon einer Kunstform =D=D=D Bemerkenswert wie du aus dieser grauen Welt so bunte Gefühlserlebnisse und Kindheitserinnerungen hervorzauberst =D=D=D Einfach grandios! Pokal!
TtfortwoTtfortwo vor 5 Jahren
DAS! IST! ANDERS!!! UND! GANZ! GROSSARTIG!!!
FloydFloyd vor 5 Jahren
Futuristisch dystopisches Märchen. Wundervoll. Duftkino.
NuiWhakakoreNuiWhakakore vor 5 Jahren
Einfach nur fantastisch! Ich würde noch steinlausgrau anbieten, ist aber eine andere Geschichte...
MariellaMmmhMariellaMmmh vor 5 Jahren
Einfach nur ganz großes Kino.
RenataRenata vor 5 Jahren
Toller Kommentar, der einem einen unbekannten Duft sehr nah bringt.........
PollitaPollita vor 5 Jahren
Ein traumhaftes Bild zu einem sehr schönen Duft.
SchatzSucherSchatzSucher vor 5 Jahren
Also grau ist deine Beschreibung keineswegs. Im Gegenteil, sie leuchtet in den wärmsten Farben. Du schaffst es immer wieder, Düfte auf so andere und wunderbare Weise näherzubringen. Spice Blend ist mir noch nicht begegnet, aber er könnte mir wohl gefallen.
YataganYatagan vor 5 Jahren
Eigenwillig. Berührend. Großartig.
BehmiBehmi vor 5 Jahren
Wow wunderschön gezeichnetes Bild!