Ttfortwo
Sehr hilfreiche Rezension
10
Blaupause des klassischen Herrenduftes. Riecht gut. Aber wer will heute so noch riechen?
Habe heute morgen beim Aufräumen eine fast volle 100-ml-Aluflasche gefunden, die wir vermutlich vor 15 Jahren (wahrscheinlich sogar noch etwas früher) aus Grasse mitgebracht haben. Ich hatte den Duft vollkommen vergessen und auch die Flasche, von der ich bis vorhin sowieso geschworen hätte, dass sie längst hätte geleert sein müssen.
Was lernen wir daraus?
1. Mein Mann hat ihn offensichtlich nicht - oder jedenfalls nicht auf Dauer - gemocht.
2. Alu ist ein fantastisches Material, um Düfte aufzubewahren, denn das Zeuch riecht wie frisch abgefüllt.
Der Duft muss reformuliert sein worden, seit wir ihn erstanden haben. Die Duftpyramide weist aktuell "Melone" in der Kopfnote auf, sowieso eine reichlich zeitgeistige Zutat, die ich (als Parfumzutat, nicht als Frucht) eher grauslig finde. Ein Zugeständnis an den aktuellen Duftgeschmack?
Tatsache ist, daß mein Mann kaum etwas mehr haßt als Melone, und zwar sowohl als Duft als auch als Frucht. Ich darf im Sommer noch nicht einmal eine solche in unserer Wohnung aufbewahren ohne ein substantielles Zerwürfnis zu riskieren, was zu ebensolchen, also substantiellen, Zerwürfnissen mit meinen Kollegen führt, weil ich meine geliebten Melonen stattdessen im Abteilungskühlschrank aufbewahre...
Nie-, nie-, NIEmals hätte er dem Kauf eines Duftes zugestimmt, in dem sich eine Melone hätte befinden können. Mußte er aber auch nicht, denn die damalige fruchtige Zutat in der Kopfnote war die Ananas. Wie bitte? Ja, genau. Was Ananas mit "Ungarn" oder gar in einer angeblich aus dem 14 (!) Jahrhundert stammenden Rezeptur zu tun hat, hat sich mir nämlich schon beim Kauf nicht erschlossen, weshalb ich mich gut daran - an die Ananas also - erinnern kann.
Schon die vollkommen intakte Kopfnote offenbart den klassischen Charakter: Glasklare Bergamotte und Lavendel und eben der leichte Fruchthauch ohne irgendeinen Anflug von Raffinesse oder Hintergründigkeit, präzise aufeinandergelegt.
Daraus entwickelt sich ein frischwürziger klassischer Herrenduft, relativ kühl, mit einem Hauch von Duschgel, vollkommen vorhersehbar, ohne irgend einen überraschenden Twist, eine kleine Listigkeit, einen hintergründigen Dreh. Das ist, wie einen bisher unbekannten volkstümlichen Schlager zu hören, bei dem man die Melodie- und Harmoniefolge - obschon noch nie gehört - immer schon vorhersagen und daher mitsummen kann.
Die Haltbarkeit ist tadellos: Jetzt, Stunden später, wird der Duft langsam basisweicher, in der Pyramide ist kein Sandelholz angegeben, gleichwohl meine ich, welches zu riechen. Möglicherweise war früher welches drin.
Ich verstehe jetzt, warum mein Mann den nicht getragen hat. Der Duft ist schlicht langweilig. Er ist makellos arrangiert, er riecht gut, es gibt keinen Fehlton, keine noch so kleine Dissonanz, nicht die winzigste stolpernde Synkope, kein Augenzwinkern, nichts, was diesen humorlosen Streberling erträglich machte.
Als Blaupause für DEN klassischen Herrenduft von Interesse. Als Duft eher nicht mehr.