07.04.2025 - 06:42 Uhr

Marieposa
87 Rezensionen

Marieposa
Top Rezension
35
My Coney Island Baby
Ich kann spüren, wie sich das Papier zwischen meinen Fingern wellt, und vermutlich könnte ich es noch weitere Stunden anstarren, ohne dass Worte darauf erscheinen oder der Horizont verschwindet, den ich so geflissentlich ignoriere. Von hier aus betrachtet fällt gar nicht auf, dass die Farbe vom alten Riesenrad abgeplatzt ist, obwohl es sich in stoischer Einsamkeit in meinem Augenwinkel dreht. Manchmal weht der Wind die Fetzen einer Melodie heran, treibt sie vor sich her wie den Nieselregen und mein gekräuseltes Haar.
… she's a rose, she's the pearl
she's the spin on my world …
Eine Erinnerung platzt in meinem Kopf wie eine Bubblegumblase. Verschwommene Theaterschminke. Staub wie Irispuder auf Jahrmarktgondeln. Ein fernes Lachen. Doch heute ist mein Lippenstift verblasst, wird bald vergehen wie jene Worte, die nie da waren.
… Halt den Gedanken fest
Auch wenn er falsch ist, du hast recht …
Ich könnte mich auflösen im Vergessen, mich davonschleichen ins Verlorengehen – doch ich könnte auch das Kinn ein wenig nach vorne recken und das Papier in meiner Hand zerknüllen. Denn auch wenn der Regen Fußspuren im Sand verwischt, ist da die vertraute Süße meiner eigenen Haut.
… she's a princess, in a red dress
she's the moon in the mist to me …
Ich könnte aufstehen und die Mascaraspuren unter meinen Augen verreiben. Und ich könnte den Lippenstift nachziehen. Dazu müsste ich nicht mal in den Spiegel sehen.
… Und wir denken, was wir woll'n
Weil wir wissen, es wird spät
Lächerliche Zeit vergeht …
Als ich mich dabei ertappe, wie meine Finger einen Stern in den feuchten Sand malen, ist da nur noch süße Wärme.
… she's my coney island baby
she's my coney island girl …
Vielleicht wird es Zeit aufzustehen.
… Wir sind verlor'n …
**
Ich bin kein besonders visueller Mensch und wenn es ums Fotografieren geht, kann man nicht behaupten, dass ich mit überschüssigem Talent belastet bin. Trotzdem besitze ich eine kleine Lomografie-Kamera mit schrottiger Plastiklinse, die niemals zuverlässig abbildet, was man im Sucher gesehen hat, die Farben entweder überzeichnet oder verwäscht und regelmäßig hängen bleibt, wenn man den Film weiterdreht, sodass die Fotos mal absichtlich, mal unabsichtlich mehrfach belichtet werden. Keine Technik für Perfektionisten! Aber für mich ein beglückender Versuch, ein persönliches Unvermögen in etwas nostalgisch Schönes zu verwandeln (manchmal zumindest) – und ein gewisses Überraschungsmoment in mein Leben zu bringen, wenn ich einen Film entwickeln lasse.
Als ich Lyn Harris‘ Dust vor Kurzem wiederbegegnet bin, hatte ich plötzlich das gleiche wehmütige Ziehen in der Herzgegend, das ich immer empfinde, wenn zwischen meinen zahllosen missglückten Lomo-Fotos unerwarteterweise eins etwas geworden ist. Dieser zarte, transparente Duft mit den fließenden Übergängen zwischen Lippenstift, Irispuder und Himbeerbubblegum flüstert so suggestiv von Nostalgie und Herzschmerz wie das olfaktorische Pendant zu Lomografien vom Riesenrad in Coney Island, auf denen das Farbspektrum im gerade richtigen Maß verschoben ist.
Moschus bildet hier sanfte Wölkchen, schafft eine diffuse Atmosphäre, die der im Verlauf immer deutlicher werdenden vanilligen Benzoe die Schwere nimmt und mit hautwarmem Opoponax umarmt. Hier ist nichts bitter, schwer, stickig oder kompliziert, auch wenn ein Quäntchen Iris-Melancholie die Grenze zwischen warmen und kühlen Noten ausbalanciert.
Lyn Harris‘ olfaktorische Flüstertöne haben mich wieder einmal hinterrücks mit einem Duft verzaubert, dessen gefällige Süße mich aus anderer Hand bestimmt überfordert hätte. Doch so ist Dust nun meine erste Wahl für Tage, an denen die Welt zu laut, zu harsch und zu grell ist und ich einfach nur in einer sanften, nostalgischen Puderwolke versinken und mit etwas Lippenstift eine himbeerrote Grenze zwischen mir und den kleineren oder größeren Alltagsturbulenzen ziehen will.
Vielen Dank für den Wanderbrief, liebe Jeob, dem aus einem überraschenden Impuls heraus nach langer Zeit ein Flakon gefolgt ist.
Die zitierten Songs kann man zum Beispiel hier anhören:
Coney Island Baby von Tom Waits https://www.youtube.com/watch?v=45YK2yvA3cg
Wir sind verloren von Wanda https://www.youtube.com/watch?v=_vrRe4qbgZs
… she's a rose, she's the pearl
she's the spin on my world …
Eine Erinnerung platzt in meinem Kopf wie eine Bubblegumblase. Verschwommene Theaterschminke. Staub wie Irispuder auf Jahrmarktgondeln. Ein fernes Lachen. Doch heute ist mein Lippenstift verblasst, wird bald vergehen wie jene Worte, die nie da waren.
… Halt den Gedanken fest
Auch wenn er falsch ist, du hast recht …
Ich könnte mich auflösen im Vergessen, mich davonschleichen ins Verlorengehen – doch ich könnte auch das Kinn ein wenig nach vorne recken und das Papier in meiner Hand zerknüllen. Denn auch wenn der Regen Fußspuren im Sand verwischt, ist da die vertraute Süße meiner eigenen Haut.
… she's a princess, in a red dress
she's the moon in the mist to me …
Ich könnte aufstehen und die Mascaraspuren unter meinen Augen verreiben. Und ich könnte den Lippenstift nachziehen. Dazu müsste ich nicht mal in den Spiegel sehen.
… Und wir denken, was wir woll'n
Weil wir wissen, es wird spät
Lächerliche Zeit vergeht …
Als ich mich dabei ertappe, wie meine Finger einen Stern in den feuchten Sand malen, ist da nur noch süße Wärme.
… she's my coney island baby
she's my coney island girl …
Vielleicht wird es Zeit aufzustehen.
… Wir sind verlor'n …
**
Ich bin kein besonders visueller Mensch und wenn es ums Fotografieren geht, kann man nicht behaupten, dass ich mit überschüssigem Talent belastet bin. Trotzdem besitze ich eine kleine Lomografie-Kamera mit schrottiger Plastiklinse, die niemals zuverlässig abbildet, was man im Sucher gesehen hat, die Farben entweder überzeichnet oder verwäscht und regelmäßig hängen bleibt, wenn man den Film weiterdreht, sodass die Fotos mal absichtlich, mal unabsichtlich mehrfach belichtet werden. Keine Technik für Perfektionisten! Aber für mich ein beglückender Versuch, ein persönliches Unvermögen in etwas nostalgisch Schönes zu verwandeln (manchmal zumindest) – und ein gewisses Überraschungsmoment in mein Leben zu bringen, wenn ich einen Film entwickeln lasse.
Als ich Lyn Harris‘ Dust vor Kurzem wiederbegegnet bin, hatte ich plötzlich das gleiche wehmütige Ziehen in der Herzgegend, das ich immer empfinde, wenn zwischen meinen zahllosen missglückten Lomo-Fotos unerwarteterweise eins etwas geworden ist. Dieser zarte, transparente Duft mit den fließenden Übergängen zwischen Lippenstift, Irispuder und Himbeerbubblegum flüstert so suggestiv von Nostalgie und Herzschmerz wie das olfaktorische Pendant zu Lomografien vom Riesenrad in Coney Island, auf denen das Farbspektrum im gerade richtigen Maß verschoben ist.
Moschus bildet hier sanfte Wölkchen, schafft eine diffuse Atmosphäre, die der im Verlauf immer deutlicher werdenden vanilligen Benzoe die Schwere nimmt und mit hautwarmem Opoponax umarmt. Hier ist nichts bitter, schwer, stickig oder kompliziert, auch wenn ein Quäntchen Iris-Melancholie die Grenze zwischen warmen und kühlen Noten ausbalanciert.
Lyn Harris‘ olfaktorische Flüstertöne haben mich wieder einmal hinterrücks mit einem Duft verzaubert, dessen gefällige Süße mich aus anderer Hand bestimmt überfordert hätte. Doch so ist Dust nun meine erste Wahl für Tage, an denen die Welt zu laut, zu harsch und zu grell ist und ich einfach nur in einer sanften, nostalgischen Puderwolke versinken und mit etwas Lippenstift eine himbeerrote Grenze zwischen mir und den kleineren oder größeren Alltagsturbulenzen ziehen will.
Vielen Dank für den Wanderbrief, liebe Jeob, dem aus einem überraschenden Impuls heraus nach langer Zeit ein Flakon gefolgt ist.
Die zitierten Songs kann man zum Beispiel hier anhören:
Coney Island Baby von Tom Waits https://www.youtube.com/watch?v=45YK2yvA3cg
Wir sind verloren von Wanda https://www.youtube.com/watch?v=_vrRe4qbgZs
34 Antworten