Auf den Duft aufmerksam wurde ich durch einen Podcast, bei dem erwähnt wurde, dass ‚L’Heure Perdue‘ ohne einen einzigen natürlichen Inhaltsstoff auskommt. Das fand ich vor dem Hintergrund der eher konservativen Ausrichtung der Traditionsmarke Cartier sowie der Könnerschaft seiner Parfümeurin konzeptionell sehr spannend. Konsequenterweise wollte Mathilde Laurent ihn daher auch ‚L’Heure Chimique‘ nennen, was im Unternehmen aber auf wenig Gegenliebe stieß (andere Vorschläge waren ‚L’Heure Moléculaire’ und ‚L’Heure Abstraite‘). Wie bei ‚Synthetic Jungle‘ bzw. ‚Synthetic Nature’ von Frédéric Malle gesehen, muss das der Beliebtheit eines Duftes jedoch nicht abträglich sein.
Duftcharakterisierung:
Mit Malle bin ich auch bei der aus meiner Sicht entscheidenden Verbindung zu diesem Duft, denn für mich riecht ‚L’Heure Perdue‘ nach einem aller Süße beraubten ‚Dries van Noten par Frédéric Malle‘. Jener ist u.a. inspiriert vom Geruch flämischer Süßspeisen wie Waffeln und Spekulatius. Hefig, buttrig und ordentlich gesüßt. Der unsüße, hefeähnliche Teileindruck wird dabei durch das Molekül ‚Sulfurol‘ hervorgerufen, welches dort meinem Empfinden nach prominent eingesetzt ist (die Internetseite des französischen Magazins Le Nez führt es allerdings als sehr gering dosiert an, wobei ihm eine „extreme“ Stärke attestiert wird, was meinen Eindruck nachvollziehbar erscheinen lässt). Beschrieben wird es meist als Mischung aus fleischig (im Sinne von „hautähnlich“), brotig, geröstet, metallisch, zart ölig-ranzig und nussig (thegoodsenctscompany). Mich erinnert es an den Geruch von hart gebackenem Salzteig, mit dem ich als Kind Figuren hergestellt habe. Im Prinzip einem Hefeteig mit viel Salz, der keinerlei Flüssigkeit mehr besitzt. Ein sehr eigener, aparter Ton, der unparfümig, ja fast körpereigen wirkt. Letzteren Effekt räumt Laurent in einem Interview denn auch als ihre Hauptintention für diesen Duft ein und bestätigt den überdosierten Einsatz von ‚Sacrasol‘ (eine andere Bezeichnung für ‚Sulfurol‘ (auparfum.bynez). Dieses Molekül beherrscht für mich diesen Duft. Ihm fast gleichwertig zur Seite gestellt sind aus meiner Sicht Aldehyde, die einen zusätzlich sauberen, seifig-metallischen Eindruck beisteuern, der im Verlauf auf meiner Haut sogar überwiegt. Dabei ist die Tonalität nicht so ausgeprägt wie in klassischen Aldehyddüften, sondern etwas niedriger frequent, allerdings ähnlich stechend. Die Geruchsprofile der beiden Moleküle überschneiden sich dabei in ihren leicht säuerlichen („ranzig“ wäre übertrieben), metallischen und artifiziellen Aspekten. In Kombination erweckt das auf meiner Haut den Eindruck eines Kernseifengeruchs: grobkörnig-metallisch-seifig mit einer zarten Würze (salzig-hefig). Hinzu kommen für mich Facetten diffusen Moschus’, welcher eine Nuance Weichheit und Wärme verleiht, zarter Holzigkeit (ISO-E-Super-ähnlich), minimaler Trockenwürzigkeit (wie grüner Kardamom) und ganz unterschwelliger Floralität (rückgemeldet wurde mir Rose, von deren Profil einzelne Moleküle auch in der Formel enthalten sind, s.u.).
Die Konsistenz des Eau de Parfums ist dabei ausgesprochen durchlässig, größtenteils luftig sowie leicht pudrig-körnig (die Formel listet Irisersatzstoffe, Heliotropin und verschiedene Moschusderivate auf). All das erzeugt bei mir einen überwiegend molekülartig-artifiziellen Geruchscharakter, bei dem in der Abstrahlung auf meiner Haut v.a. der typische, leicht stechende, kühlseifig-metallische, dezent säuerliche Aldehyd-Geruch der klassischen Aldehydgruppe C7-12 dominiert. Dass mich dieser Ton beim Tragen kaum stört, liegt an der Laurent-typisch filigranen und zurückhaltenden Abstimmung (diese wirkt allerdings nur in der Eigenwahrnehmung so, faktisch projiziert er - wie häufig von Moleküldüften gewohnt - enorm! - bei ebenso guter Haltbarkeit). Allerdings erreicht der Duft aus meiner Sicht trotzdem nicht die zweite Intention Laurents, nämlich der des Aufbrechens der weithin vorherrschenden Überzeugung einer qualitativen und geruchlichen Unterlegenheit synthetischer Duftstoffe gegenüber natürlichen. Sie wollte nämlich zeigen, dass ein durch und durch synthetisches Parfum genauso gut riechen kann wie ein mit natürlichen Inhaltsstoffen versetztes (die hier verwendeten sind der Natur identisch nachgebildete, von ihr inspirierte und von ihr völlig unabhängige). Zudem sollte es sinnlich und menschlich wirken. Ihre Bemühungen sind spürbar (nach eigenen Angaben hat sie über dreihundert Versuche bis zur endgültigen Formel benötigt), aber für mich riecht ‚L’Heure Perdue’ letztlich zu artifiziell, zu technisch und damit zu wenig lebendig und menschenzugewandt. Eingesetzt wurden für dieses erste komplett synthetische Parfum der Marke übrigens genau 23 Moleküle, die bei Interesse auf der Seite von Les Nez nachzulesen sind (auparfum.bynez.com/au-coeur-de-l-heure-perdue-de-la-coumarine-aux-methylionones,4078).
Der Einsatz dieser Anzahl wirft auch ein Schlaglicht auch die oft sehr irreführende Handhabung offizieller Notenangaben. Die Marke listet nämlich ausschließlich Vanillin auf. Eine Dominanz dieses Moleküls, welches durch die singuläre Notenangabe suggeriert wird und laut Laurent im Mittelpunkt der Komposition steht, ist für mich allerdings nicht nachvollziehbar. Es ist allenfalls unterschwellig existent. Zumindest auf meiner Haut entwickelt der Duft kaum Süße. Auch auf Textil und Papier bleibt nur eine Ahnung davon zurück. Selbst laktotische Eindrücke, wie von Laurent wohl beabsichtigt, vermisse ich. Auf dieser Plattform wird der Duft jedoch als hauptsächlich süß charakterisiert. Ob diese Einordnung durch die offizielle Notenangabe beeinflusst ist oder mit einer Reformulierung zusammenhängt, wie es in verschiedenen Foren diskutiert wird, kann ich nur vermuten. Dort wird bei aktuellen Batches z.T. von einem erheblich luftigeren, leicht muffigen und dtl. weniger süßen Geruchsbild als bei früheren Versionen gesprochen. Das korreliert mit meinen Eindrücken und würde auch den Einsatz von Aldehyden plausibler erscheinen lassen, die in der Ursprungsformel nicht enthalten sind.
Evtl. erklärt das auch, weshalb der Duft verschieden eingeordnet wird. In einigen Quellen wird er als Gourmand geführt, in anderen als Amberduft. Für mich persönlich ist er ein Aldehydduft mit leicht brotig-würziger Ausrichtung. Insofern könnte ich mich am ehesten mit der Kategorie des Gourmands arrangieren, aber nur unter dem Zusatz „abstrakt“. Dieses Merkmal würde wiederum gut zur unkonventionellen Duftsprache der L’Heures-Reihe und der eher intellektuell-kreativen Herangehensweise Laurents passen, die gewohnten Dufteindrücken gern neue Facetten abgewinnt.
Interessant fand ich bei der Recherche zu diesem Duft zudem, dass die Parfümeurin - neben der erwähnten Ehrenrettung synthetischer Duftstoffe - einen Duft kreieren wollte, der an jene des 19.Jh. erinnern soll. Dafür nutzte sie ausschließlich Inhaltsstoffe, die im 19. und 20. Jh. entwickelt wurden. Er erfüllt dieses Ziel in gewisser Weise, denn durch die Mischung aus Kernseifenassoziation und künstlicher Aura wirkt er auf mich sowohl nuanciert retroesk als auch zart avantgardistisch.
Fazit:
‚L’Heure Perdue’ ist ein sehr eigenständiger, aparter Duft mit innovativem Konzept, bei dem ich mir zur Abdämpfung des etwas zu künstlichen Eindrucks lediglich die Beigabe von ein paar natürlichen Duftstoffen gewünscht hätte. Aber damit wäre die spannende Grundidee auf den Kopf gestellt. Insofern bleibt bei mir ein leicht zwiespältiges Gefühl zurück.