Hasu-no-Hana 1888 Eau de Parfum

Marieposa
02.04.2024 - 08:55 Uhr
43
Top Rezension
7
Sillage
9
Haltbarkeit
10
Duft

Tess Durbeyfield

Natürlich würde er mit ihr nicht tanzen.
Sie stand ein wenig abseits des Trubels und hatte den Blick ins Licht der tiefstehenden Sonne gerichtet, obwohl sie lediglich seine entschwindende Silhouette erkennen konnte. Flirrend wie Goldstaub taumelten winzige Insekten im Licht. Er musste sie auf seinem Weg durch das hohe Gras der Wiese aufgescheucht haben, während auf dem Tanzplatz noch fröhliche Musik ertönte und sich die Mädchen in ihren weißen Kleidern kichernd im Kreise drehten.
Auch ihr Kleid war leuchtend weiß und die zarten Blüten in dem Sträußchen in ihrer Hand mit genauso viel Sorgfalt gepflückt wie die der anderen. Außerdem hatte nur sie sich ein Band ins braune Haar geflochten, das so rot wie ihre Lippen war – und doch würde sie nun immer das Mädchen bleiben, dessen grölender Vater auf dem Einspänner den Tanz gestört hatte, auch wenn sie ihn ganz selbstverständlich vor den anderen verteidigt hatte.
Natürlich hatte er mit ihr nicht getanzt.
Dass der Saum ihres Kleides sich vom Moos und der nassen Erde am Rande der Wiese grünlich-feucht verfärbt hatte, würde sie erst am nächsten Morgen bemerken. Und sie sah im Gegenlicht auch nicht, dass er sich noch einmal umdrehte.

Lag da ein ganz leichter Ausdruck des Vorwurfs in ihrem ernsten Blick?
Im Sonnenlicht schimmerte ihr von warm-braunem Haar umkränztes Gesicht beinahe wie Perlmutt, während die anderen weißen Gestalten bereits wieder selbstvergessen über den grünen Platz wirbelten und keinen Gedanken mehr an den fremden Tänzer zu verschwenden schienen. Mit dieser einen Ausnahme.
Es versetzte ihm einen kleinen Stich, wie er sie da so stehen sah, abseits von den anderen in ihrem dünnen weißen Kleid, voll Sanftmut und Bescheidenheit und doch … verletzt? Er wünschte, er hätte sie nicht im Trubel übersehen, hätte sie verlegen errötend zum Tanz gebeten, mit ihr gesprochen, nach ihrem Namen gefragt. Das nagende Gefühl, dass er sich dumm verhalten hatte, ließ sich nicht mehr abschütteln, doch daran konnte er nun nichts ändern. Er wandte sich zur geschotterten Landstraße um und ging raschen Schrittes weiter.

***

„A mere vessel of emotion untinctured by experience.“ So beschreibt Thomas Hardy seine junge Protagonistin zu Beginn seines Romans „Tess of the d’Urbervilles“, der, 1891 erschienen, nur drei Jahre jünger ist als Hasu-no-Hana. Ob der Duft „frei von jeglicher Erfahrung“ ist, möchte ich nicht beurteilen, aber ein „Gefäß, das nichts als Gefühle enthält“ ist er für mich auf jeden Fall.
Um ein Grundgerüst aus Bitterorange und Iris über einer Basis aus Amber, Patchouli und Eichenmoos, das man wenige Jahrzehnte nach dem Erscheinen wohl als Chypre mit orientalischem Twist bezeichnet hätte, schillert der Duft perlmuttartig in allen hellen Facetten, die Farben annehmen können, bevor sie aufhören, Farben zu sein und weiß werden. Iris tritt hier kaum pudrig in Erscheinung, sondern so samtig wie die Blüten der Iris Florentina, die genauso weiß-perlmutt-hellblau schimmern wie der Duft. Da sind noch andere florale Noten, die ich nicht benennen kann, eine rührend altmodische Gartennelke (nicht gelistet – war ja klar, dass meine Nase wieder macht, was sie will) und zitrische Noten, die sich wie feinster Goldstaub auf die zarten Blütenblätter legen. Im Verlauf behält der Duft seine filigrane Zartheit und Helligkeit, wird aber durch die (eingebildete) Gartennelke würziger, nimmt eine unterschwellig fruchtige Note an (vielleicht von Ylang-Ylang?), um schließlich von hellen Hölzern, eher grünlichem Patchouli und sanft rauchigem Vetiver umrahmt und von Unmengen Eichenmoos zärtlich abgefedert zu werden.

Wie wegweisend muss dieser Duft, der heute so nostalgisch wirkt, zu seiner Zeit gewesen sein! Oder war er ihr gar voraus? So wie Thomas Hardys Roman?

So richtig möchte ich mich mit dem Gedanken gar nicht aufhalten, nicht herumphilosophieren, was Hasu-no-Hana für andere sein oder gewesen sein könnte, sondern einfach nur die herzzerreißende Schönheit dieses Duftes genießen. Neben der majestätischen Wucht und Perfektion ihrer Schwestern Phũl-Nãnã und Shem-el-Nessim aus Grossmiths Classic Collection mag Hasu-no-Hana fast ein bisschen unscheinbar wirken. Es ist kein Duft, der das Bedürfnis hat, sich in den Vordergrund zu drängen, und doch bringt er in mir eine Saite zum Klingen, welche die anderen, ehrfürchtig, aber distanziert bewunderten Schönheiten nicht zu berühren vermochten.
Hasu-no-Hanas helle Leichtigkeit erscheint mir so unschuldig wie die junge Tess Durbeyfield, die noch nicht ahnt, mit welch traurigem Schicksal die Zukunft ihre Schönheit und ihr zartes, loyales Wesen bestrafen wird. Und doch schwingt von Anfang an eine sehnsuchtsvolle Melancholie mit. Fast wie in jener Szene ganz zu Beginn des Romans, die ich immer wieder lese, in der Tess Durbeyfield und Angel Clare sich um Haaresbreite nicht begegnen und in der dieses bitter-süße Was-Wäre-Wenn mitschwingt.

Vielen Dank für das Pröbchen, lieber Floyd. Da hast du mal wieder was losgetreten ;-)
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