Dass sich Parfum d'Empire fast 20 Jahre Zeit gelassen hat einen Vétiver Duft rauszubringen, ist schon mal ein spezieller Ausgangspunkt. Gehörte ein 'ordentliches Vétiver' schon lange zum Kanon im modus operandi der Autorenparfumerie, siehe L'Artisan Parfumeur (1978), Annick Goutal (1985), Maître Parfumeur et Gantier (1988) - und so auch wieder mit dem vermehrten Erscheinen von Vétivers seit den frühen 2000'er Jahren - an einem Vétiver führt(e) scheinbar kein Weg vorbei.
Soviel schonmal vorweg - Vétiver Bourbon ist ein 'gstandenes' Vétiver und das wollte Marc-Antoine Corticchiato anscheinend auch, ein Vétiver mit dem sympathischen Vorhaben, es von allzu bourgeois-zivilisierten Manieren zu entfesseln "(…) unshackles it from its overly civilised manners to restore its native elegance" - so der Autor. In der Tat, seit Carven, Givenchy und Guerlain Mitte des 20. Jahrhundert Vétiver als Fixstern im (Herren) Parfum-Firmament etablierten, schwingt bei dieser Pflanze neben aller Exotik ihrer Anbaugebiete auch Bürgerliches mit. Ursprünglich aus Indien stammend, wurde es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert über Mauritius nach La Réunion (vormals Île Bourbon) eingeführt. Seit den 1930'er Jahren verschoben sich die Produktionsstandorte peu à peu nach nach Haiti, bzw. in die andere Richtung nach Indonesien. Globalisierung in the making. Wie so viele der zentralen Komponenten der Parfumerie, ist auch die Geschichte dieser Zutaten eng verbunden mit kolonialen Vergangenheiten - ein komplexes Thema das kaum kritisch behandelt wird, bzw. mehr oder weniger ausgeklammert bleibt.
Freilich, viele Vétiver Düfte orientieren sich immer noch nach den Blaupausen von Guerlain, Givenchy & Co, aber es gab auch immer schon Versuche, die interne Komplexität der Vétiverwurzel ins Rampenlicht zu stellen. Manche der oben erwähnten Vétivers haben diese Pfade sicherlich gelegt oder zumindest mit eingetreten. Vétiver Destillate werden auch von erfahrenen Parfumeuren gerne als bereits in sich abgeschlossene Mikrokompositonen betrachtet - so unlängst Isabelle Doyen. Die Parfumeurin hat mit ihrer Turtle Vetiver Serie und speziell Turtle Vetiver Exercise 1 (2009) vielleicht den Duft mit einem der bis dato höchsten gemessenen Vetiver Anteile von 90% signiert. Und Düfte wie Vitrum (2012), Vêtu de Vert (2020) aber auch solche wie vom Kleinstlabel N•O•A•M, mit Bois Verna (2022): schon seit geraumer Zeit gibt es faszinierende Unterfangen die Fesseln der urbanen Vétiver Geographie loszuwerden. Vétiver und Exotik, oder vielleicht besser Otherness, könnten aber auch langjähriger zurückverfolgt werden, erscheint im französischem Kontext bereits im ersten Band von Proust's Recherche, ein Moment wo der noch jugendliche Protagonist über den fremdartigen Geruch von Vétiverwurzeln moniert.
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Was aber sind Corticchiato's Schlüssel um den rohen Charme des Vetivers zu dechiffrieren? Wer bereits einen genaueren Blick auf frühere Arbeiten des Parfumeurs geworfen hat, wird wenig verwundert sein, dass auch hier auf ein hochwertiges Destillat gesetzt wird. 'Parfum-matière' bzw. 'materials-driven', nennt Parfum d'Empire diese Sorgfalt für gutes Zeug. Auf die zentrale Zutat wird bereits im Titel hingewiesen, Vétiver Bourbon, also das von La Réunion, ein back to the roots im französischen Vétiver Anbau. Direkt aus Réunion stammt es jedoch nicht, der Parfumeur hat, zusammen mit seinem korsischen Landsmann Lucien Acquarone, Pflanzen der Insel auf dem benachbarten Madagascar gezogen. Acquarone wurde vergangenes Jahr mit Mal Aime (2021) posthum gewürdigt, auch stammen Absolutes die in den Heritage Corse Veröffentlichungen Immortelle Corse und Aqua di Scandola (beide 2019), ebenso wie die in Helios di Corsica (2018), zum Einsatz vermutlich aus den Destillerien der Familie Acquarone. Die Entscheidung, massgeschneiderte Zutaten direkt und exklusiv zu produzieren kann zum einen als Antwort auf den Einsatz von Captives der grossen Riechstoff Hersteller wie IFF, Symrise oder Givaudan, gelesen werden - die meist den hausinternen Parfumeuren und Aufträgen exklusiv zu Verfügung stehen, ist aber auch Resonanzschwingung in die andere Richtung des Spektrums: die Tinkturen und Kleinstmengen-Absolutes der Heimbau und Botanik Szene.
Vétiver Bourbon fächert sich wie ein konzeptuelles Ein-Farben-Menü mit sorgfältigem Spirituosen pairing aus: Thematisch bleibt der grüne Faden zu jedem Zeitpunkt das Vétiver, doch in gut abgestimmten timing, verhandelt Vétiver Bourbon in seinem Ablauf eine Palette grünlicher Schattierungen.
Der Auftakt ist in der Tat perlig, spritzig, spirituös und verzichtet erfreulicherweise auf jegliche Zitrik, die so viele klassische Vétivers eröffnen. Ambrette Samen sind es die den Start des Parfums dennoch knackig und prickelnd erscheinend lassen. Die Zutat, die bereits bei Le Cri de la Lumière (2017) im Fokus stand, kam mir in dieser schnapseigen Art, erstmals in der Eau de Toilette Version von Chanel No. 18 (2007) unter, diesen Effekt setzte Corticchiato auch bei Corsica Furiosa (2014) und später bei Salute! (2019) in ganz anderen Geschmacksrichtungen ein. Die Kombination mit Vétiver, das ebenso präsent den Auftakt beschreibt, ist eigen - und ein Kunstgriff, im weiten Bogen wird hier um Bergamotte bzw. Grapefruit, seit Jahren wohl die beliebtesten pairings mit Vetiver, vorbei navigiert. Das Duo Ambrette / Vétiver erinnert auch das erwähnte und längst eingestelltes Vétiver Eau de Toilette von Annick Goutal, bei dem eine jodartige maritime Note die Modulation steuert.
Graduell wird die Ambrette Note von Nelken ersetzt, die - hier kommen wohl die gesellschaftlichen Zügel doch noch mal zum Einsatz - sehr gut pariert sind, ein präzise getimter Verlauf, das Vetiver bleibt im Vordergrund, gewinnt aber Dank Nelkenmodulation allmählich an Tiefe und Terroir. Das gefühlte Volumen ähnelt jetzt dem von Mal Aime, aber neben den offensichtlichen Schnittmengen 'grün' und 'pflanzlich' kommt es zu keinen Überlappungen. Wenn auch wesentlich dunkler, muss ich hier an die durch Liebstöckel stark beeinflusste Vétiver Note bei Sel de Vétiver (2006) denken. In diesem mittleren Abschnitt ist Vétiver Bourbon ganz unverblümt Vétiver at its' best! Zeit- und trendfrei, aber irgendwie auch anachronistisch, unparfümiert, etwas roh. Iris-artiges vernebelt das Profil schliesslich in der Basis, süssliche Noten stossen dazu, in minimalen Ausmaßen und bereiten dem Duft einen balsamischen, sehr weichen Abgang, der die Grün-Facetten nochmals abrundet und komplettiert.
So ergänzt Vétiver Bourbon ein Gebiet, das über Jahrzehnte entstand vortrefflich. Es moduliert und vereint raffiniert die Spektra, die diverse Vétivers gerne jeweils fuer sich alleine beanspruchen. In seinem Verlauf bietet die Verbindung Ambrette + Vétiver ein Novum. Auch wenn bourbonisches Vétiver bei zahlreichen älteren, Nicht-Vétiver Düften zum Einsatz kam und somit vermutlich auch in frühen Chargen bei Guerlain und Givenchy – Vétiver Düfte, die es erstmals namentlich erwähnten waren wohl Route du Vétiver und Etro's famoses Vétiver Eau de Cologne (1989). Miller Harris setzte Mitte der 2000'er Jahre mit dem ehemals gleichnamigen Vétiver Bourbon (2005), auch bewusst auf die Zutat, unlängst gelang Hugo Lambert mit Vetiver Royal Bourbon (2014) ein beeindruckend austarierter Kommentar. Aber, im Sinne der Biodiversität, neue und nuancierte Interpretationen sind höchst willkommen.