Unkommentierte Düfte No. 19
Es wird mal Zeit für das eine oder andere Geständnis: Erstens bin ich seit vielen Jahren ein großer Fan von Serge Lutens. Daran wäre ja gar nichts Verwerfliches. Dennoch hat das Ganze einen kleinen Haken. Wer in meine Sammlung blickt, dem wird auffallen, das ich gar nicht so viele Düfte der Marke besitze, derzeit sogar nur zwei. Bei den Abfüllungen sieht es jedoch schon ganz anders aus und getestet habe ich gar alle. Auch das ist ja eigentlich noch nicht verwerflich, abgesehen vom Geld, das derart viele Testmuster und Abfüllungen verschlungen haben. Tatsächlich begann meine Leidenschaft bei einem viele Jahre zurück liegenden Test in einer exklusiven Parfümerie meiner Heimatstadt, die damals bereits mit einer Vielzahl von Serge Lutens-Düften bestückt war. Nischendürfte waren noch nicht in aller Munde, Parfüm-Aficionados verehrten Serge Lutens, Creed, Maitre Parfumeur et Gantier und L‘Artisan. Das war es auch schon so ziemlich. Damals wuchs diese stille Liebe zu den Düften des Meisters in den klassisch schlichten Flakons und hat mich nie mehr verlassen. Und nun zu meinem Geständnis im engeren und eigentlichen Sinne. Ich kann gar nicht anders: Wenn ich Düfte von Serge Lutens teste, dann neige ich dazu, sie zu gut zu bewerten. Ich schätze so um die 10%. Damit ist es raus und ihr wisst Bescheid. Wenn ihr also künftig einen Kommentar von mir zu einem Duft von Serge Lutens lest, dann dürft ihr fürderhin immer 10% von meiner Bewertung abziehen, um meine wahrhaftige und wirkliche Einschätzung des Parfums zu erfahren. Wenn es euch interessiert. Wenn nicht, könnt ihr großzügig darüber hinwegsehen.
Nun wird es Zeit für ein weiteres Bekenntnis: Ich bin ein großer Fan von Luca Turin. Ich weiß, dass das hier gar nicht gerne gesehen wird. Die Meinung eines Einzelnen, sei sie auch noch so berufen, kann ja nie und nimmer die Objektivität einer Mehrheitsmeinung ersetzen. Stimmt ja auch. Trotzdem meine ich, dass Luca Turin und seine Muse Tania Sanchez vor allem im englischen Original (die deutsche Übersetzung ist recht gut, aber wegen des nonchalanten Tons der beiden nicht annähernd so lustig wie das Original) unglaublich komisch schreiben können, ja ein Talent für lässig-originelle Formulierungen haben, die vielleicht manchmal über das Ziel hinaus schießen, vielleicht manchmal sogar etwas albern wirken, aber in ihren besten Momenten große Duftliteratur sind. Da lasse ich auch nicht mit mir drüber reden. Hinzu kommt, und das ist der eigentliche Teil des Bekenntnisses, dass ich mich so oft in den Beschreibungen und Bewertungen von Luca Turin wieder fand, dass ich - ernsthaft - ganz enttäuscht bin, wenn der Meister der duftenden Worte mit seinem Urteil ganz und gar neben dem meinen liegt. Das ist keine Hybris, sondern ganz im Gegenteil die Enttäuschung, offenbar das Genie einer Komposition nicht so würden zu können wie er. Genug der Beweihräucherung von LT. Das ist sonst so gar nicht meine Art, aber es war mal fällig.
Die Einleitung ist auch deshalb so lang geworden, weil ich natürlich in irgend einer Weise rechtfertigen muss, warum meine eigene Bewertung so weit von der der Mehrheit hier auf Parfumo abweicht - und die Mehrheit, das sind im vorliegenden Falle immerhin - oder auch nur - 38 User/innen. Ich selbst schwanke dagegen zwischen 80 und 90% (ihr wisst schon: 10% abziehen) und weiß mich somit in meiner Bewertung von Luca und Tania verstanden, die dem Duft in ihrem Magnum Opus (PERFUMES. the A - Z guide) die Höchstwertung von 5 Sternen verpasst haben. Danke ihr beiden!
Tania! Luca! Habt ihr mich nun vollständig beeinflusst? War ich noch zu einem objektiven Urteil in der Lage, insbesondere bei einem Serge Lutens-Duft?
Der Versuch einer Annäherung: Zunächst einmal mag ich Myrrhe. Und um dieses Gewächs herum ist der ganze Duft aufgebaut. Gleichzeitig ist da aber auch etwas Cremig-Wächsernes, das traditionellen Damendüften so häufig eigen ist: Luca Turin vergleicht es mit der alten Formel von Guerlains Shalimar. Da mag etwas dran sein. Und gleichzeitig hat La Myrrhe, ich zitiere nochmals „a pure, clear, unearthly tone with beauty and force, as if the fragrance could sing a clean high C as high as heaven...“ Angesichts dieser Formulierung wurde mir schlagartig klar, was mich an diesem Duft und generell an Düften von Serge Lutens fasziniert: Es ist der helle Ton: weniger dunkel-schwülstig, weniger weich, eher mit dem Kopf komponiert als mit dem Bauch. Ein intellektueller Duft. Die Basis von Sandelholz wirkt niemals süßlich, der Amber ebenfalls nicht; dafür sorgt vielleicht die Myrrhe und der Anis, beides zwei Komponenten, die ein Gegengewicht zu den weichen, warmen Tönen bilden. Die blumig-fruchtige Grundierung könnte von den Aldehyden herrühren, die oftmals für diesen Ton verantwortlich sind. Hier erscheint mir der Grundgeruch fast ein wenig wie eine süße, saftige Orange, obwohl diese Komponente ja gar nicht angegeben ist.
Der Duft balanciert damit fast perfekt zwischen dem balsamisch-würzigen Duft der Myrrhe, deren biblisch-theologische, medizinische und erotische Bedeutung hier nur mehr angedeutet werden kann und eine duftende Würdigung verdient, und einem blumig-fruchtigen, hellen Akzent, der ihm alles Orientalisch-Süße nimmt. Das würde für mich auch die schlechte Bewertung von La Myrrhe auf Parfumo erklären, da die meisten orientalischen Düfte jüngeren Datums eher weich, warm, sinnlich, süß ausfallen und einen Duft wie La Myrrhe zur Herausforderung für heutige Nasen machen.
Abschließend möchte ich nur noch ergänzen, dass ich ganz erstaunt und auch beglückt war, dass zu diesem Edelduft noch kein Kommentar verfasst wurde und ich mir deshalb auch die Freiheit genommen habe, etwas weiter auszuholen. Ganz gegen meine Gewohnheit...