06.06.2014 - 00:05 Uhr

Naaase
109 Rezensionen

Naaase
Top Rezension
Ich bin ein Berliner
"Ich bin ein Berliner"
... ist nicht etwa der morgendliche Lockruf in der Bäckerei meines Vertrauens seitens eines gleichnamigen (kalorienintensiven) Gebäcks sondern ein Zitat aus der Rede John F. Kennedys am 26. Juni 1963 vor dem Rathaus Schöneberg in West-Berlin. Nachdem Kennedy in seinem ersten Amtsjahr als US-Präsident 1961 den Mauerbau hingenommen hatte, sollten sein Besuch anlässlich des 15. Jahrestages der Berliner Luftbrücke und seine Rede klarstellen, dass die Vereinigten Staaten West-Berlin keinesfalls dem sowjetischen Kommunismus überlassen würden.
Doch heute haben wir es schließlich nicht mit einem Mann aus Berlin, erst recht nicht mit einem Amerikanischen Präsidenten zu tun. Sondern -wie uns der Name dieses Duftes bereits verrät- um eine Frau. Genauer gesagt, um ein Mädchen aus Berlin. Bevor jetzt die ersten weiblichen Leser sich angesprochen fühlen und unisono einstimmen "Berlin, Berlin, wir kommen aus Berlin" möchte ich nur schnell noch erzählen, dass dieser Duft (aus dem Jahr 2012) von Serge Lutens kreiert wurde. Serge Lutens gilt als der "Exzentriker der Düfte" und ist einer der berühmtesten Parfumeure weltweit. Seine Lebensgeschichte liest sich wie die eines großen Missverständnisses: Einerseits gehört er zu den anerkanntesten Parfumeuren weltweit, was andererseits jedoch nie sein Ziel war Im Gegenteil: Seine Düfte sind sperrig und komplex. Zu viel Kunst, zu wenig Kommerz. Stets antikonform, fernab des Geschmacks der Zeit. Und gerade deshalb prägend. Serge Lutens, in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, wollte sich nur von dem leiten lassen, was ihn antreibt: Seiner Kreativität eine Gestalt zu geben. Mit 14 begann er eine Ausbildung zum Friseur. Lutens schnitt seinen Kundinnen extravagante Kurzhaarfrisuren mit ausrasiertem Nacken. Nicht unbedingt dem Zeitgeist entsprechend. Doch war es diese Unerschrockenheit, die ihn über eine Anstellung als Hair/Make-up-Artist der französischen "Vogue" hin zum japanischen Kosmetik-Konzern "Shiseido" führte. Anfang der 90er-Jahre entwickelte Autodidakt Serge Lutens seine ersten Düfte, ohne je eine Ausbildung abgeschlossen zu haben. Mittlerweile leitet er ein eigenes Label. Lutens setzt Trends, obwohl er selbst, im schwarzen Maßanzug mit weißem Hemd und Manschettenknöpfen gekleidet, eher wie ein Relikt aus den 20er-Jahren wirkt. In einem Interview mit der "Welt Online" hat er sich mal wie folgt geäußert: "Ich teste verschiedene Kompositionen, aber ich trage sie nicht. Dem Parfum-Tick würde ich mich nie verschreiben. Es ist eine Kunst, das Besondere hervorzuheben und nicht in einen gewohnten Trott zu fallen. Welche Düfte ich bevorzuge, das hängt vom Thema ab. Wenn ich mit Holz arbeite, ist es Holz; bei einer Blume ist es eine Blume. Grundsätzlich bergen natürliche Grundsubstanzen für mich größere Überraschungen.
Die Schaffung von "L'Eau de Serge Lutens", einem "Antiparfum" war eine Reaktion auf unsere überparfümierte Welt: Duftkerzen und Geruchsneutralisatoren schaffen ein Negativbild des Parfums. Man muss benennen können, was man riecht, aber in dieser Welt riecht alles, und doch duftet nichts mehr. Das Antiparfum ist eine Art dies auszudrücken: Es ist ein blütenweißes Hemd, ein gebügelter Kopfkissenbezug, eine Form des Friedens außerhalb der Aggressivität der verschiedenen Geruchseinflüsse. Das Parfum ist das i-Tüpfelchen, kein Muss. Der Lohn für die Mühe, wenn Sie so wollen. Meine Inspirationsquelle kann olfaktorisch oder literarisch sein, sogar eine komplexe Gedächtnisaufgabe. Sie verzweigt sich, verschlingt sich ineinander. Ich entwirre sie."
Weiter wurde er gefragt, ob er sich mit der Romanfigur Jean-Baptiste Grenouille aus "Das Parfum" identifizieren könne. Hierauf antwortete Lutens: "Ich will nicht verbergen, dass diese Frage immer wieder gestellt wird. Grenouille hat keinen Geruch, aber er riecht alles. Deshalb, um einen Geruch zu erlangen, wählt er jenen, den er am meisten mag – und dieser verleugnet seltsamerweise sein eigenes Alter und Geschlecht: Es ist der Geruch von jungen, geschlechtsreifen, rothaarigen Mädchen. Er will den Geruch erlangen, deshalb mordet er. Ich vermute, dass sich Grenouille seines Mangels bewusst ist, dass der fehlende Duft seiner fehlenden Seele entspricht. Mir mangelt es daran nicht. Der perfekte Roman oder Film hat immer sein Publikum. Dieses 'Perfekt' ist eine Kupplung in allen Bereichen – Parfum inbegriffen. Bei dem Wort 'perfekt' – wenn ich realistisch bin – wäre es aber eher angebracht, davon zu sprechen, es überhaupt zu einem Ergebnis zu bringen. Es zum Besten und zum Schlechtesten meiner selbst zu führen, in jedem Fall aber zum Äußersten." Und angesprochen auf die Gerüche seiner Kindheit in Lille: "Alle Gerüche sind mit der Kindheit verbunden, vorausgesetzt, dass man sie in diesem Moment auf eine heftige, intensive Art wahrnimmt. Dabei wird alles aufgezeichnet und erlebt, das heißt, in diesem Moment, der erfreulich oder unerfreulich war, wird festgelegt, ob wir diesen Geruch mögen oder nicht mögen werden. Den Duft der Gegenwart würde ich gerne so benennen: Sich vom Parfum zu befreien, der flächendeckenden Odorierung entfliehen. Die Sauce weglassen, um den Geschmack des Salats wiederzuentdecken." Serge Lutens war früher Fotograf bei Christian Dior, bevor er sich in den Orient verliebte und Parfums entwarf; er lebt derzeit in Marrakesch: "Die Erweckung der Sinne ist in Afrika viel stärker ausgeprägt. Vielleicht ist es dieses Manko in Europa, was uns einen Hauch Orient kaufen lässt." "Der Zeit online" sagte er hierzu: "Man kann eine Kultur nicht allein mit dem Geist erfassen. Man trägt sie in sich, einen Geschmack, ein Empfinden. Als ich anfing, Parfums zu machen, war ich sehr stark von Marokko angezogen. Warum? Als Kind in Lille musste ich jeden Tag die Rue Tournai überqueren, um in die Stadt zu kommen. Das war eine arabische Straße, viele Algerier haben dort gelebt. Die Gerüche, die Stimmung, das Geheimnisvolle dieser Straße haben mich umfangen. Ich habe das alles aufgesogen. Das war wohl meine erste Begegnung mit dem Orient. Es ist eine Frage der Ernährung, des Klimas und der Alltagskultur. Völker, die Fisch essen, mögen keine warmen Parfums. Menschen, die Fleisch essen, mögen warme Parfums. Ich mag reichhaltige Parfums, aber offen müssen sie sein. Japan , Schweden , Norwegen und andere Länder des Nordens sind Länder der Sauberkeit. Dort mag man meine Parfums nicht. Man liebt das Wasser, das Bad, aber nicht Parfums. Frankreich hat keine Tradition der Sauberkeit, Baden war immer eine schlimme Pflicht und Parfum eher dazu dar, um den Körpergeruch zu überdecken. Die Menschen im Orient hingegen sind sehr sauber. Zum Beispiel werden die Neugeborenen und Verstorbenen mit Orangenblüten abgerieben. Parfum ist dort überall im Leben."
Weiter räumte er gegenüber der "Welt online" ein: "Ich bin auf eine generelle Art von Düften besessen, aber nicht auf Gerüche im Speziellen. Besessenheit ist die Grundlage allen Schaffens. Ohne sie würde weder etwas entstehen, noch zu Ende gebracht werden. Es ist eine Art, sich etwas vor Augen zu führen.
Die Sauberkeit ist der Beginn des Luxus. Das Parfum ist eine bewusst gewählte Identität. Was stinkt, stinkt auch weiterhin – mit oder ohne Parfum. Was ich mache, ist etwas vollkommen Individuelles und soll sich nicht einer elitären Sache verschreiben. Diese modernen 'Star-Parfums' verbergen eine Misere. So weit ich weiß, haben weder Jeanne Moreau, noch Glenda Jackson oder Marlene Dietrich ihre eigenen Parfums kreiert. Wie ich schon vorhin sagte: Die Sauce weglassen, aber in diesem Fall, na ja, bin ich nicht sicher, ob man Salat findet." Und weiter gegenüber der "Zeit online: "In Europa gibt es fast überall eine Hysterie, die ganze Welt mit Parfumprodukten zu kolonisieren. Ich glaube, dass es nicht wünschenswert ist, solchen Einfluss auszuüben. Seit der Nachkriegszeit ist unsere sinnliche Wahrnehmung ziemlich zensiert worden. Das amerikanische Marketing kam und schickte sich an, den Konsum zu vereinfachen, den es im 19. Jahrhundert gegeben hatte. Man kann ernsthaft fragen, ob man sowas nach männlich und weiblich unterteilen kann. Es gibt keine Männerrestaurants oder Frauenrestaurants, keine Männer- oder Frauenmusik. Es geht doch um die Sinnlichkeit. Ich habe in England sehr elegante Herren gesehen, die Rosendüfte trugen. In puncto Parfum sollten wir die Adams und Evas des amerikanischen Marketings hinter uns lassen. Da sind Männer und Frauen getrennt wie die Scheißhaustüren im Bahnhof. Wir sollten eher nach dem suchen, was Geschlechter verbindet, als nach den Unterschieden. Auf gewisse Art habe ich mich immer eher in eine Frau hineinversetzt. Die sensible, sinnliche Welt ist die weibliche. Ich kenne inzwischen den orientalischen Mann gut, weil er den weiblichen Anteil viel stärker auslebt. In den westlichen Gesellschaften ist das nicht so sehr akzeptiert. Schönheit lässt sich nicht durch ein Produkt definieren. Sie ist der Ausdruck eines Gefühls, nicht das Ergebnis von Chemie. Schönheit ist der Moment, in dem man erhobenen Hauptes seinen eigenen Schmerz durchschreitet, sein eigenes Leiden, seine eigenen Ruinen durchquert, um wieder zurückzukehren ins Leben. Sicherlich hat jeder eine andere Vision von Schönheit. Noch nie waren die Menschen weiter entfernt von ihrer jeweiligen Identität als heute. Parfum wird häufig genutzt, um lediglich das Bild eines anderen zu tragen. Die wenigsten nutzen es, um sich selbst zu finden oder zu definieren. Ein Parfum hilft einem, seine eigene Erinnerung, seine Identität gespiegelt zu sehen. Man legt es an und nach zwei, drei Minuten vergisst man es. Aber man weiß, es ist da. Es gibt einem Selbstvertrauen. Ich weiß aber nicht, ob man diese Parfums für den Massenmarkt wirklich alle Parfums nennen kann. Sie sind wie Fahrstuhlmusik, genauso effizient in der Anwendung."
In dem Duft "La Fille de Berlin" geht es um eine Rose. Hierzu ist zu lesen: "Diese Rose ist reine Erfindung. Sie ist sehr dornig, wild und würzig. Sehr pudrig, ein wenig pfeffrig und lang anhaltend. Es ist ein komplexer Duft, der nichts Eindimensionales aufweist. Es ist eine üppige Blume, entstanden aus Blut, Nacht, Schnee, Angst und Ehre. Es ist eine atemberaubende Rose. Ihre Gewalt ist ihre Schönheit. Berlin ist hip, Berlin ist Kult ! Vor allem aber: Berlin ist eine vibrierende Künstler-Metropole, die Kreative aller Genres anzieht und fasziniert. Kein Wunder, dass auch für ein so kreatives Multi-Talent wie Serge Lutens Berlin ein Thema ist – und das sogar gleich mehrfach: Zeitgleich mit der Veröffentlichung seiner Fotografien-Sammlung „Berlin á Paris“ hebt Serge Lutens seine neueste Duftkreation 'La Fille de Berlin' aus der Taufe. Das blumig-orientalische Parfum mit delikaten Noten von Rose und Pfeffer ist der erste Duft von Serge Lutens überhaupt, der eine Stadt im Namen führt. Eine echte Premiere unter den (sonst ja farblich eher dezenten) Serge Lutens-Düften ist auch die blutrote Farbe, mit der 'La Fille de Berlin' dem Betrachter entgegen schimmert – wie ein Symbol für das pralle Leben, das in ihren Adern pulsiert."
Und diese Rose ist auch sogleich in der Kopfnote präsent. Und wie ! Eine stolze Rose. Nicht androgyn-zurückhaltend wie jene aus Francis Kukdjian's "Lumière Noire". Eine rote langstielige Rose in einer schlichten hohen Vase. Eine einzelne rote Rose. Ihrer Wirkung stets bewusst. Eine dornige Rose, die da selbstbewusst und geradezu selbstverständlich vor uns thront. Ein Hauptdarsteller in einem abgedunkelten Raum. Jedoch trotzdem für jeden stets wahrnehmbar. Kraftvoll und zart zugleich. Wer sie liebt und wer sich auf sie einlässt, dem entfaltet sie ihren betörenden Duft. Wer sich ihr widersetzt, der soll ihre unnachgiebigen Dornen zu spüren bekommen. Blumig und zugleich würzig. Würzig unterlegt durch Pfeffer. Durch einen milden Pfeffer, der nicht brennt. Der lediglich dazu dient, den Auftritt unserer Rose zu unterstreichen. Ein Pfeffer, der unserer Rose Tiefe verleiht. Ja, sie fast schon ein wenig "cremig" erscheinen lässt. Unsere Rose entstammt keiner bunten Blumenwiese. Schon gar nicht einer in Berlin-Schöneberg. Sie hat einen langen Weg zurückgelegt. Ist von weither angereist. Auf einem fliegenden Teppich geflogen. Es ist nämlich eine rote orientalische Rose. Doch bei "La Fille de Berlin" kommt diese fremdländische Nuance nicht von den verwendeten Zutaten, die unsere stachelige Hauptdarstellerin begleiten. Nein, der Orient strahlt aus ihr selbst. Sie selbst ist es, die ihre Herkunft preis gibt. Aus sich heraus wirkt sie selbst wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Wie ein stolzer Stammesfürst blickt sie ihrem Träger selbstbewusst ins Antlitz. Ihrer Wirkung stets bewusst: Wissend, woher sie kommt. Wo sie hin will. Und was sie erreicht hat.
Ich meine, dass gerade dieser Aspekt es ist, der treffend das Berlin der Nachkriegszeit widerspiegelt: Die (Trümmer-) Frauen, die einzig mit der Kraft ihrer zarten Hände verzweifelt versuchten, Stein auf Stein wieder zu setzen. Ihre Heimat wieder aufzubauen. In der Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Zukunft. In Kenntnis vieler in diesem abscheulichen Krieg gefallener Männer. Ihrer Männer. Wissend, dass es nunmehr auf sie ankommt. Auf ihren Fleiß. Auf ihre Kraft. Auf ihre Stärke. Aber auch in gleichem Maße -hervorgerufen durch die "fremdländische" Facette unserer stolzen Rose- ein Brückenschlag zu dem heutigen Berlin. Ein Berlin verschiedener Nationen. Ein Berlin verschiedener Kulturen. Verschiedener Kulturen, die aufgerufen sind, friedlich und respektvoll miteinander (und nicht nur nebeneinander) zu leben, um die eigene und auch die anderen Kulturen zu verstehen und zu bereichern.
Und so überlasse ich Friedrich Hölderlin gerne auch mein Schlusswort:
"Ewig trägt im Mutterschoße,
Süße Königin der Flur!
Dich und mich die stille, große,
Allbelebende Natur;
Röschen ! Unser Schmuck veraltet,
Stürm' entblättern Dich und mich,
Doch der ewge Keim entfaltet
Bald zu neuer Blüte sich."
... ist nicht etwa der morgendliche Lockruf in der Bäckerei meines Vertrauens seitens eines gleichnamigen (kalorienintensiven) Gebäcks sondern ein Zitat aus der Rede John F. Kennedys am 26. Juni 1963 vor dem Rathaus Schöneberg in West-Berlin. Nachdem Kennedy in seinem ersten Amtsjahr als US-Präsident 1961 den Mauerbau hingenommen hatte, sollten sein Besuch anlässlich des 15. Jahrestages der Berliner Luftbrücke und seine Rede klarstellen, dass die Vereinigten Staaten West-Berlin keinesfalls dem sowjetischen Kommunismus überlassen würden.
Doch heute haben wir es schließlich nicht mit einem Mann aus Berlin, erst recht nicht mit einem Amerikanischen Präsidenten zu tun. Sondern -wie uns der Name dieses Duftes bereits verrät- um eine Frau. Genauer gesagt, um ein Mädchen aus Berlin. Bevor jetzt die ersten weiblichen Leser sich angesprochen fühlen und unisono einstimmen "Berlin, Berlin, wir kommen aus Berlin" möchte ich nur schnell noch erzählen, dass dieser Duft (aus dem Jahr 2012) von Serge Lutens kreiert wurde. Serge Lutens gilt als der "Exzentriker der Düfte" und ist einer der berühmtesten Parfumeure weltweit. Seine Lebensgeschichte liest sich wie die eines großen Missverständnisses: Einerseits gehört er zu den anerkanntesten Parfumeuren weltweit, was andererseits jedoch nie sein Ziel war Im Gegenteil: Seine Düfte sind sperrig und komplex. Zu viel Kunst, zu wenig Kommerz. Stets antikonform, fernab des Geschmacks der Zeit. Und gerade deshalb prägend. Serge Lutens, in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, wollte sich nur von dem leiten lassen, was ihn antreibt: Seiner Kreativität eine Gestalt zu geben. Mit 14 begann er eine Ausbildung zum Friseur. Lutens schnitt seinen Kundinnen extravagante Kurzhaarfrisuren mit ausrasiertem Nacken. Nicht unbedingt dem Zeitgeist entsprechend. Doch war es diese Unerschrockenheit, die ihn über eine Anstellung als Hair/Make-up-Artist der französischen "Vogue" hin zum japanischen Kosmetik-Konzern "Shiseido" führte. Anfang der 90er-Jahre entwickelte Autodidakt Serge Lutens seine ersten Düfte, ohne je eine Ausbildung abgeschlossen zu haben. Mittlerweile leitet er ein eigenes Label. Lutens setzt Trends, obwohl er selbst, im schwarzen Maßanzug mit weißem Hemd und Manschettenknöpfen gekleidet, eher wie ein Relikt aus den 20er-Jahren wirkt. In einem Interview mit der "Welt Online" hat er sich mal wie folgt geäußert: "Ich teste verschiedene Kompositionen, aber ich trage sie nicht. Dem Parfum-Tick würde ich mich nie verschreiben. Es ist eine Kunst, das Besondere hervorzuheben und nicht in einen gewohnten Trott zu fallen. Welche Düfte ich bevorzuge, das hängt vom Thema ab. Wenn ich mit Holz arbeite, ist es Holz; bei einer Blume ist es eine Blume. Grundsätzlich bergen natürliche Grundsubstanzen für mich größere Überraschungen.
Die Schaffung von "L'Eau de Serge Lutens", einem "Antiparfum" war eine Reaktion auf unsere überparfümierte Welt: Duftkerzen und Geruchsneutralisatoren schaffen ein Negativbild des Parfums. Man muss benennen können, was man riecht, aber in dieser Welt riecht alles, und doch duftet nichts mehr. Das Antiparfum ist eine Art dies auszudrücken: Es ist ein blütenweißes Hemd, ein gebügelter Kopfkissenbezug, eine Form des Friedens außerhalb der Aggressivität der verschiedenen Geruchseinflüsse. Das Parfum ist das i-Tüpfelchen, kein Muss. Der Lohn für die Mühe, wenn Sie so wollen. Meine Inspirationsquelle kann olfaktorisch oder literarisch sein, sogar eine komplexe Gedächtnisaufgabe. Sie verzweigt sich, verschlingt sich ineinander. Ich entwirre sie."
Weiter wurde er gefragt, ob er sich mit der Romanfigur Jean-Baptiste Grenouille aus "Das Parfum" identifizieren könne. Hierauf antwortete Lutens: "Ich will nicht verbergen, dass diese Frage immer wieder gestellt wird. Grenouille hat keinen Geruch, aber er riecht alles. Deshalb, um einen Geruch zu erlangen, wählt er jenen, den er am meisten mag – und dieser verleugnet seltsamerweise sein eigenes Alter und Geschlecht: Es ist der Geruch von jungen, geschlechtsreifen, rothaarigen Mädchen. Er will den Geruch erlangen, deshalb mordet er. Ich vermute, dass sich Grenouille seines Mangels bewusst ist, dass der fehlende Duft seiner fehlenden Seele entspricht. Mir mangelt es daran nicht. Der perfekte Roman oder Film hat immer sein Publikum. Dieses 'Perfekt' ist eine Kupplung in allen Bereichen – Parfum inbegriffen. Bei dem Wort 'perfekt' – wenn ich realistisch bin – wäre es aber eher angebracht, davon zu sprechen, es überhaupt zu einem Ergebnis zu bringen. Es zum Besten und zum Schlechtesten meiner selbst zu führen, in jedem Fall aber zum Äußersten." Und angesprochen auf die Gerüche seiner Kindheit in Lille: "Alle Gerüche sind mit der Kindheit verbunden, vorausgesetzt, dass man sie in diesem Moment auf eine heftige, intensive Art wahrnimmt. Dabei wird alles aufgezeichnet und erlebt, das heißt, in diesem Moment, der erfreulich oder unerfreulich war, wird festgelegt, ob wir diesen Geruch mögen oder nicht mögen werden. Den Duft der Gegenwart würde ich gerne so benennen: Sich vom Parfum zu befreien, der flächendeckenden Odorierung entfliehen. Die Sauce weglassen, um den Geschmack des Salats wiederzuentdecken." Serge Lutens war früher Fotograf bei Christian Dior, bevor er sich in den Orient verliebte und Parfums entwarf; er lebt derzeit in Marrakesch: "Die Erweckung der Sinne ist in Afrika viel stärker ausgeprägt. Vielleicht ist es dieses Manko in Europa, was uns einen Hauch Orient kaufen lässt." "Der Zeit online" sagte er hierzu: "Man kann eine Kultur nicht allein mit dem Geist erfassen. Man trägt sie in sich, einen Geschmack, ein Empfinden. Als ich anfing, Parfums zu machen, war ich sehr stark von Marokko angezogen. Warum? Als Kind in Lille musste ich jeden Tag die Rue Tournai überqueren, um in die Stadt zu kommen. Das war eine arabische Straße, viele Algerier haben dort gelebt. Die Gerüche, die Stimmung, das Geheimnisvolle dieser Straße haben mich umfangen. Ich habe das alles aufgesogen. Das war wohl meine erste Begegnung mit dem Orient. Es ist eine Frage der Ernährung, des Klimas und der Alltagskultur. Völker, die Fisch essen, mögen keine warmen Parfums. Menschen, die Fleisch essen, mögen warme Parfums. Ich mag reichhaltige Parfums, aber offen müssen sie sein. Japan , Schweden , Norwegen und andere Länder des Nordens sind Länder der Sauberkeit. Dort mag man meine Parfums nicht. Man liebt das Wasser, das Bad, aber nicht Parfums. Frankreich hat keine Tradition der Sauberkeit, Baden war immer eine schlimme Pflicht und Parfum eher dazu dar, um den Körpergeruch zu überdecken. Die Menschen im Orient hingegen sind sehr sauber. Zum Beispiel werden die Neugeborenen und Verstorbenen mit Orangenblüten abgerieben. Parfum ist dort überall im Leben."
Weiter räumte er gegenüber der "Welt online" ein: "Ich bin auf eine generelle Art von Düften besessen, aber nicht auf Gerüche im Speziellen. Besessenheit ist die Grundlage allen Schaffens. Ohne sie würde weder etwas entstehen, noch zu Ende gebracht werden. Es ist eine Art, sich etwas vor Augen zu führen.
Die Sauberkeit ist der Beginn des Luxus. Das Parfum ist eine bewusst gewählte Identität. Was stinkt, stinkt auch weiterhin – mit oder ohne Parfum. Was ich mache, ist etwas vollkommen Individuelles und soll sich nicht einer elitären Sache verschreiben. Diese modernen 'Star-Parfums' verbergen eine Misere. So weit ich weiß, haben weder Jeanne Moreau, noch Glenda Jackson oder Marlene Dietrich ihre eigenen Parfums kreiert. Wie ich schon vorhin sagte: Die Sauce weglassen, aber in diesem Fall, na ja, bin ich nicht sicher, ob man Salat findet." Und weiter gegenüber der "Zeit online: "In Europa gibt es fast überall eine Hysterie, die ganze Welt mit Parfumprodukten zu kolonisieren. Ich glaube, dass es nicht wünschenswert ist, solchen Einfluss auszuüben. Seit der Nachkriegszeit ist unsere sinnliche Wahrnehmung ziemlich zensiert worden. Das amerikanische Marketing kam und schickte sich an, den Konsum zu vereinfachen, den es im 19. Jahrhundert gegeben hatte. Man kann ernsthaft fragen, ob man sowas nach männlich und weiblich unterteilen kann. Es gibt keine Männerrestaurants oder Frauenrestaurants, keine Männer- oder Frauenmusik. Es geht doch um die Sinnlichkeit. Ich habe in England sehr elegante Herren gesehen, die Rosendüfte trugen. In puncto Parfum sollten wir die Adams und Evas des amerikanischen Marketings hinter uns lassen. Da sind Männer und Frauen getrennt wie die Scheißhaustüren im Bahnhof. Wir sollten eher nach dem suchen, was Geschlechter verbindet, als nach den Unterschieden. Auf gewisse Art habe ich mich immer eher in eine Frau hineinversetzt. Die sensible, sinnliche Welt ist die weibliche. Ich kenne inzwischen den orientalischen Mann gut, weil er den weiblichen Anteil viel stärker auslebt. In den westlichen Gesellschaften ist das nicht so sehr akzeptiert. Schönheit lässt sich nicht durch ein Produkt definieren. Sie ist der Ausdruck eines Gefühls, nicht das Ergebnis von Chemie. Schönheit ist der Moment, in dem man erhobenen Hauptes seinen eigenen Schmerz durchschreitet, sein eigenes Leiden, seine eigenen Ruinen durchquert, um wieder zurückzukehren ins Leben. Sicherlich hat jeder eine andere Vision von Schönheit. Noch nie waren die Menschen weiter entfernt von ihrer jeweiligen Identität als heute. Parfum wird häufig genutzt, um lediglich das Bild eines anderen zu tragen. Die wenigsten nutzen es, um sich selbst zu finden oder zu definieren. Ein Parfum hilft einem, seine eigene Erinnerung, seine Identität gespiegelt zu sehen. Man legt es an und nach zwei, drei Minuten vergisst man es. Aber man weiß, es ist da. Es gibt einem Selbstvertrauen. Ich weiß aber nicht, ob man diese Parfums für den Massenmarkt wirklich alle Parfums nennen kann. Sie sind wie Fahrstuhlmusik, genauso effizient in der Anwendung."
In dem Duft "La Fille de Berlin" geht es um eine Rose. Hierzu ist zu lesen: "Diese Rose ist reine Erfindung. Sie ist sehr dornig, wild und würzig. Sehr pudrig, ein wenig pfeffrig und lang anhaltend. Es ist ein komplexer Duft, der nichts Eindimensionales aufweist. Es ist eine üppige Blume, entstanden aus Blut, Nacht, Schnee, Angst und Ehre. Es ist eine atemberaubende Rose. Ihre Gewalt ist ihre Schönheit. Berlin ist hip, Berlin ist Kult ! Vor allem aber: Berlin ist eine vibrierende Künstler-Metropole, die Kreative aller Genres anzieht und fasziniert. Kein Wunder, dass auch für ein so kreatives Multi-Talent wie Serge Lutens Berlin ein Thema ist – und das sogar gleich mehrfach: Zeitgleich mit der Veröffentlichung seiner Fotografien-Sammlung „Berlin á Paris“ hebt Serge Lutens seine neueste Duftkreation 'La Fille de Berlin' aus der Taufe. Das blumig-orientalische Parfum mit delikaten Noten von Rose und Pfeffer ist der erste Duft von Serge Lutens überhaupt, der eine Stadt im Namen führt. Eine echte Premiere unter den (sonst ja farblich eher dezenten) Serge Lutens-Düften ist auch die blutrote Farbe, mit der 'La Fille de Berlin' dem Betrachter entgegen schimmert – wie ein Symbol für das pralle Leben, das in ihren Adern pulsiert."
Und diese Rose ist auch sogleich in der Kopfnote präsent. Und wie ! Eine stolze Rose. Nicht androgyn-zurückhaltend wie jene aus Francis Kukdjian's "Lumière Noire". Eine rote langstielige Rose in einer schlichten hohen Vase. Eine einzelne rote Rose. Ihrer Wirkung stets bewusst. Eine dornige Rose, die da selbstbewusst und geradezu selbstverständlich vor uns thront. Ein Hauptdarsteller in einem abgedunkelten Raum. Jedoch trotzdem für jeden stets wahrnehmbar. Kraftvoll und zart zugleich. Wer sie liebt und wer sich auf sie einlässt, dem entfaltet sie ihren betörenden Duft. Wer sich ihr widersetzt, der soll ihre unnachgiebigen Dornen zu spüren bekommen. Blumig und zugleich würzig. Würzig unterlegt durch Pfeffer. Durch einen milden Pfeffer, der nicht brennt. Der lediglich dazu dient, den Auftritt unserer Rose zu unterstreichen. Ein Pfeffer, der unserer Rose Tiefe verleiht. Ja, sie fast schon ein wenig "cremig" erscheinen lässt. Unsere Rose entstammt keiner bunten Blumenwiese. Schon gar nicht einer in Berlin-Schöneberg. Sie hat einen langen Weg zurückgelegt. Ist von weither angereist. Auf einem fliegenden Teppich geflogen. Es ist nämlich eine rote orientalische Rose. Doch bei "La Fille de Berlin" kommt diese fremdländische Nuance nicht von den verwendeten Zutaten, die unsere stachelige Hauptdarstellerin begleiten. Nein, der Orient strahlt aus ihr selbst. Sie selbst ist es, die ihre Herkunft preis gibt. Aus sich heraus wirkt sie selbst wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Wie ein stolzer Stammesfürst blickt sie ihrem Träger selbstbewusst ins Antlitz. Ihrer Wirkung stets bewusst: Wissend, woher sie kommt. Wo sie hin will. Und was sie erreicht hat.
Ich meine, dass gerade dieser Aspekt es ist, der treffend das Berlin der Nachkriegszeit widerspiegelt: Die (Trümmer-) Frauen, die einzig mit der Kraft ihrer zarten Hände verzweifelt versuchten, Stein auf Stein wieder zu setzen. Ihre Heimat wieder aufzubauen. In der Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Zukunft. In Kenntnis vieler in diesem abscheulichen Krieg gefallener Männer. Ihrer Männer. Wissend, dass es nunmehr auf sie ankommt. Auf ihren Fleiß. Auf ihre Kraft. Auf ihre Stärke. Aber auch in gleichem Maße -hervorgerufen durch die "fremdländische" Facette unserer stolzen Rose- ein Brückenschlag zu dem heutigen Berlin. Ein Berlin verschiedener Nationen. Ein Berlin verschiedener Kulturen. Verschiedener Kulturen, die aufgerufen sind, friedlich und respektvoll miteinander (und nicht nur nebeneinander) zu leben, um die eigene und auch die anderen Kulturen zu verstehen und zu bereichern.
Und so überlasse ich Friedrich Hölderlin gerne auch mein Schlusswort:
"Ewig trägt im Mutterschoße,
Süße Königin der Flur!
Dich und mich die stille, große,
Allbelebende Natur;
Röschen ! Unser Schmuck veraltet,
Stürm' entblättern Dich und mich,
Doch der ewge Keim entfaltet
Bald zu neuer Blüte sich."
8 Antworten