Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen, wollte der Bach sei ein Fluss, der Fluss sei ein Strom, und diese Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war, alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins.
Als das Kind Kind war, hatte es von nichts eine Meinung, hatte keine Gewohnheit, saß oft im Schneidersitz, lief aus dem Stand, hatte einen Wirbel im Haar und machte kein Gesicht beim fotografieren.
Als das Kind Kind war, war es die Zeit der folgenden Fragen: Warum bin ich ich und warum nicht du? Warum bin ich hier und warum nicht dort? Wann begann die Zeit und wo endet der Raum? Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum? Ist was ich sehe und höre und rieche nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt? [...]
Als das Kind Kind war, spielte es mit Begeisterung [...] Als das Kind Kind war, fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand und jetzt immer noch, [...] griff im Wipfel eines Baums nach dem Kirschen in einem Hochgefühl wie auch heute noch, [...] wartete es auf den ersten Schnee, und wartet so immer noch.
Als das Kind Kind war, warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum, und sie zittert da heute noch.
("Lied vom Kindsein", Peter Handke)
Als das Kind Kind war, spielte es mit Begeisterung Fangen auf einer wilden Wiese, roch dann nach frischen Blumen und herbem Grün, machte sich Flecken in die Hose und scherte sich nicht darum.
Als das Kind Kind war, rannte es alsbald weiter, zerrieb Zitronenblüten mit den kleinen Händen, schnupperte daran und wusste nicht, dass dieser Zitronenduft dem in britischen Herrendüften ähnelt, herb-seifig, es roch nur immer wieder daran und kümmerte sich nicht um die Note.
Als das Kind Kind war, konnte es noch die feinsten Düfte wahrnehmen, brauchte nicht viel davon, mochte sich nicht in Wolken hüllen und bemerkte zwei Stunden später die zarte Verwandlung der Zitronenblüte in federleicht-blumigen Moschus.
Als das Kind Kind war, wollte es nicht lange sitzen bleiben, riss sich nach drei Stunden endgültig los auf der Suche nach Neuem.
Als das Kind Kind war, fragte es sich: Wie kann es sein, daß ich, der ich bin, bevor ich wurde, nicht war, und dass einmal ich, der ich bin, nicht mehr der ich bin, sein werde? Als es schließlich nicht mehr Kind war, wusste es, dass es jederzeit, wenn es nur wöllte, wieder der sein könnte, der es war, wenn auch nur für eine Weile.
(Mit Dank an Stanze für die große Duftpost)