Das Grauen aus der Flasche
Murielle, die Cousine meiner Mutter, hatte in den 70er Jahren einen wohlhabenden Banker aus Washington geheiratet. Sie schickte uns gerne Fotos von ihrem Domizil in Virginia, einem nachgebauten weißen Kolonialhaus mit Säulen und einer Veranda davor. In meiner Fantasie war Murielle so eine Art Melanie Wilkes, die außerhalb von Raum und Zeit auf Twelve Oaks lebte. Später habe ich sie mal kurz besucht, und nichts war so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Von Südstaatenromantik keine Spur, statt dessen Geheul, Geschrei und Türenknallen. Ihre beiden Jungs waren damals in der Pubertät, und ich fand die amerikanische Provinz grauenhaft.
Aber erst einmal hatte Tante Lalla, wie wir Kinder sie nannten, ihren Besuch bei uns im Pariser Vorort Neuilly angekündigt. Während mein Vater sich ernsthaft Gedanken machte, ob Murielle sich mit einem 20 Quadratmeter großen Gästezimmer zufrieden geben würde, nahm meine Mutter den Besuch sehr gelassen hin: "Murielle soll sich bloß nicht aufplustern. Ihre Eltern haben immer nur billigen Rotwein getrunken, so ein Fusel wäre bei meinem Vater nie auf den Tisch gekommen."
Wenn ich daran denke, dass der Besuch schon über 30 Jahre her ist, war Tante Lalla ihrer Zeit weit voraus. Als wir sie in Roissy am Flughafen abholten, konnte meine Mutter nur mit Mühe ihr Entsetzen verbergen: Murielle war rappeldürr, braun, sportlich gestählt und wirkte wie eine Mischung aus Ötzi und Usein Bolt.
Mein Bruder und ich waren maßlos enttäuscht, wir hatten uns eine feenhafte Erscheinung vorgestellt, so eine Art Grace Kelly oder Cathérine Deneuve in einem weiß glitzernden Cocktailkleid von Dior und spitzen Schuhen mit hohen Absätzen, die uns huldvoll jeweils 2 bises (Küsschen links und rechts) an die Wange hauchen würde, umhüllt von einer Wolke Rosenduft.
Statt dessen sagte sie nur "Hi, folks", gab uns ihre trockene Knochenhand und tat sehr amerikanisch. Sie fragte, ob wir ein "cab" geordert hätten, worauf meine Mutter sagte : "Nein, nur unseren Citroën. Deine Eltern hatten doch so ein lustiges, altes Citroën-Modell, das am Col de la Bonette immer den Geist aufgab, ich weiß nur nicht mehr, wie das hieß". Wir Kinder verstanden nicht, warum mein Vater sich das Lachen verbiss, aber irgendwie hielt Tante Murielle danach den Mund bis Neuilly.
In den nächsten Tagen verbrachte Tante Murielle ihre Zeit mit Joggen, was vor 30 Jahren noch reichlich unbekannt war, jedenfalls fanden die Nachbarn es komisch, dass eine dürre Frau in rosa Sportkleidung in der Mittagszeit um die Häuser hechelte. Sie sei Amerikanerin, hieß es dann entschuldigend. Außerdem aß sie nur Gemüse, weder Fleisch noch irgend etwas Tierisches, heute nennt man das vegan. Und dann passierte es.
Wir planten, am Wochenende nach Honfleur zu fahren, um bei Ebbe am Strand zu toben, Meeresfrüchte zu essen und es uns gut gehen zu lassen. Murielle schien irgendwie zu denken, dass wir etwas Vornehmes vorhätten und zog sich einen schicken blau-weißen Hosenanzug an. Außerdem hatte sie erstmals Parfum benutzt - oder etwas, das sie dafür hielt.
Mir schwappte jedenfalls auf dem Weg zum Auto ein Schwall bösartiger Schimmel-Gewürze entgegen, die so grauenhaft waren, dass ich zu husten begann. Mein kleiner Bruder schüttelte sich. Ich war so naiv anzunehmen, dass Tante Lalla das Zeug ebenfalls furchtbar fand, und sagte: "Du willst dich bestimmt noch kurz waschen wegen diesem Geruch?" Sie schaute uns irritiert an. "So kann ich nicht ins Auto steigen", ergänzte mein Bruder und schob die Unterlippe vor.
"Deine Kinder haben etwas gegen mein Parfum", sagte sie zu meiner Mutter. Die ließ sich von ihrer Cousine nicht einschüchtern und meinte: "Das stinkt ja infernalisch. Das kann kein französisches Parfum sein. Sag bitte nicht, dass du da drüben amerikanisches Zeug benutzt?" "Das ist ein Klassiker", ärgerte sich Tante Lalla, "es heißt Youth Dew" . Wir verstanden kein Wort: Juusdjuu? Was sollte das sein? Schimmelwand mit Kardamom? Mein Vater hupte ungeduldig, und wir stiegen am Ende alle ein, weil wir ans Meer wollten.
Was soll ich sagen? Die zwei Stunden in einem schlecht belüfteten Auto mit Juusdjuu waren die Hölle, eine Art olfaktorische Hinrichtung. Das Auto roch, als hätte man es aus einem Sumpfgewässer gezogen, anschließend mit indischen Waren befüllt und dann eine Woche zum Trockenen in die Sonne gestellt.
Kurz hinter der Ausfahrt von Bonnières sur Seine musste sich mein Bruder übergeben, zum Glück konnte mein Vater rechtzeitig anhalten. Später bedauerte mein Bruder, Tante Lalla aus Rache nicht in den Kragen gekotzt zu haben. Ich kämpfte stumm mit Kopfweh und Übelkeit. Als wir in Honfleur ankamen, konnte ich nichts essen, dabei hatte ich mich so auf einen Teller Langoustines mit Mayonnaise im "L'Escale" gefreut. Mir war, als hätte man meine Sinne ausgeschaltet, ich wollte nichts schmecken, nichts riechen und nichts mehr anfassen.
Bei einer Wattwanderung legte sich schließlich die Übelkeit. Meine Mutter zischte ihrer Cousine ins Ohr: "Wenn Du dieses Zeug noch einmal benutzt, kannst Du alleine nach Hause fahren."
Mein Vater behauptete später immer, an seiner Lüftungsanlage sei etwas schimmelig gewesen, meine Mutter erwähnte ihre Cousine nicht mehr allzu oft - und mein Bruder und ich hatten einen Youth-Dew-Schock fürs Leben abbekommen. Sehr viel später habe ich mit mal ein Herz gefasst und an einem Sprühflakon-Kopf gerochen. Ich fand Youth Dew immer noch unangenehm, aber nicht mehr lebensbedrohlich. Was weiß ich, was die Lauder-Laboranten vor 30 Jahren zusammengemixt haben. Meine Mutter meinte jedenfalls, Leute, die billigen Rotwein in sich reinschütteten, verstünden auch nichts von Parfum.