Medianus76
22.12.2022 - 13:25 Uhr
32
Top Rezension
8
Preis
8
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
8.5
Duft

Das Mädchen mit dem Schal

„Monsieur, Monsieur!“, rief eine zerbrechliche Stimme dem edlen Herrn hinterher, der sich mit schnellem Schritt durch den eisigen Winterabend manövrierte. „Sie haben etwas verloren, so warten Sie doch.“

Es war kurz vor Weihnachten und das Land befand sich fest in der Zange eines grimmigen und quälend langen Winters. Das Jahr 1946 brachte den Menschen die kälteste Jahreszeit des 20. Jahrhunderts, verschärft durch eine im Dezember beginnende, noch kältere, zweite Frostwelle. Das Land war gezeichnet durch die Wirren des kurz zuvor beendeten Krieges und Hoffnung als auch Zuversicht waren rar gesät.
Nichtsdestotrotz gab es sie, diese kleinen lichterfüllten Momente, um die so lang vermisste Menschlichkeit zurückzubringen…

Der Mann hielt inne, drehte sich um und sah ein junges Mädchen vor sich stehen. Der Wind peitschte an diesem Abend ausdauernd und seelenlos durch die Gassen und es war schwer, vor lauter Schneegestöber nicht die Orientierung zu verlieren.
„Ich glaube, dass ist Ihr Schal“, sagte das Mädchen mit fröstelnder Stimme. „Oh ja, wie konnte ich den nur verlieren?“, begegnete der Mann ihr mit freundlichen Worten und war sichtlich dankbar, von dem Mädchen auf den Verlust des Schals hingewiesen worden zu sein. „Der Schal bedeutet mir sehr viel“, erklärte er ihr. „Den habe ich vor langer Zeit mal von meiner Tochter geschenkt bekommen. Sie hat ihn selbst gemacht!“ Stolz betrachtete er das Stück Stoff, welches in der Lage war diese unsagbare Kälte etwas zu zähmen.

Es machte fast den Anschein, als ob die Zusammenkunft der beiden schicksalhaft vorherbestimmt war. Dem Mädchen war furchtbar kalt und sie kam mit diesen widrigen Umständen nur schwerlich klar. Also reichte der Mann ihr den Schal zurück mit den Worten: „Weißt Du, wir haben ja bald Weihnachten. Deswegen möchte ich dir den für mich so wertvollen Schal zum Geschenk machen.“
Der Mann beugte sich zu dem Mädchen hinab, um ihr das Tuch umzulegen. Just in diesem Moment konnte das Mädchen den Duft des Schals wahrnehmen. Sie schloss ihre Augen, atmete tief ein und plötzlich befand sie sich in Ihren Gedanken auf einer wunderschönen, warmwürzigen Waldlichtung.

Von der Kälte ward keine Spur mehr! Verweilend auf dieser Lichtung war sie umgeben von den beruhigenden, erdigen Aromen des weichen Waldbodens. Die mächtigen Bäume wiegten sich sanft im Wind und verströmten den Geruch feinster Hölzer. Die Hölzer waren so intensiv, dunkel und rein, um die an den Baumstämmen rankenden und glitzernd-funkelnden Moose, mit ihrer Erhabenheit förmlich in sich aufzusaugen. Über dem dampfenden Waldboden waberte weich und wehmütig der filigrane Rauch des angehenden Tages. Das Sonnenlicht reflektierte sich tausendfach in dem Harz der Bäume, welches wie Perlen ins saftige Erdreich tropfte, um dort mit den holzig-moosigen Aromen des Waldes eine Symbiose für die Ewigkeit einzugehen…
Obwohl dunkel und distinguiert, vermittelte der Duft des Schals ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Als sie wieder Ihre Augen öffnete dachte sie sich: „So also duftet ein Monsieur.“

Mit einem sanften Kopfnicken verabschiedete sich der edle Herr und verschwand in der Kälte der Nacht. Die tosenden Schneeflocken blitzten durch das Licht der Straßenlaternen wie funkelnde Diamanten und in der Ferne erblickte das Mädchen eine kegelförmige, zedernartige Silhouette. Es war die duftende Aura des Monsieurs, die grünlich-blau schimmernd und wandelnd auf hölzernen Pfaden, den Weg in eine hoffnungsvollere und bessere Zukunft deutete.
Das Mädchen war durch diesen Moment zutiefst gerührt und in ihrem Herzen wurde ihr bewusst:

„Wir können die Zukunft nur verändern, wenn wir in der Gegenwart damit beginnen…“
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