Jean-Claude Ellena ist bekannt für Parfumkompositionen, die durch eine Spannung kontrastierender Noten charakterisiert sind: Klar voneinander getrennte Einzeldüfte, die sich nicht gegenseitig abschwächen, sondern – im Gegenteil – durch den Kontrast hervorgehoben werden. Dieser Kontrast wird nicht aufgelöst, sondern bleibt bestehen. Meist stundenlang stehen die Noten nebeneinander, ohne sich anzunähern. Dieses nicht Aufgelöste kann etwas Animierendes haben, der Wunsch, immer wieder am Handgelenk zu riechen, obwohl das Parfum sich kaum verändert – und es auch nicht außergewöhnlich komplex ist, sondern (im Gegenteil) eine sehr aufgeräumte Duftpyramide aufweist.
Besonders geeignet für solche Kompositionen sind schmale Duftnoten, die leicht nebeneinander gestellt werden können, ohne ineinander zu fließen. Und so ist es sicher kein Zufall, dass Ellenas bevorzugte Holznote die Zeder ist, genauer gesagt Virginia- und Texaszeder: Zeder riecht nicht nur so ähnlich wie ein Bleistift, olfaktorisch hat es auch eine Ähnlichkeit zur Form: schmal, hart, spitz zulaufend und sich nicht zerfasernd. Der Zedernduft der Hermessence-Serie ist „Poivre Samarcande“, in dem die Zeder noch zusätzlich mit Iso-E-Super angespitzt wurde.
Heißt ein Ellena-Duft nun Santal Massoïa, was ist dann zu erwarten? Zumal aus der Hermessence-Serie, in der sich der Parfumeur leidlich unbegrenzt von Trends von Marktbedürfnissen austoben darf? Sandelholz ist keineswegs hart und spitz, sondern reichhaltig, weich und milchig. Nichts, was einem Parfum Takt gibt. Aber Melodie. Massoïaholz war mir als Parfumkomponente völlig unbekannt. Ich konnte in Erfahrung bringen, dass die Rinde in früheren Zeiten als Kokosnussaroma Verwendung fand mit einem Geruchsprofil, was als ölig, cremig, milchig und eben kokosnussig umschrieben wird. Heute wird die geruchsbestimmende Substanz Massoialacton freilich synthetisch nachgestellt. Also handelt es sich um ein Holz, was geruchlich eine erhebliche Schnittmenge mit Sandelholz aufweist – nicht zwei Noten, die sich gegenüber stehen, sondern überlappen.
Was schreibt der Parfumeur zu diesen Noten? Auf der Hermès-Homepage findet sich folgendes Zitat: „Es gibt lineare und vertikale Hölzer wie etwa die Zeder, und andere, horizontale, die rund, weich und samtig sind wie Sandelholz und Massoia. (…)“ – gut, das ist mal eine Aussage eines Parfumeurs, mit der ich was anfangen kann. Bleibt für mich die Frage, wie der Transparenzfan Ellena mit flächigen und breiten Duftnoten umgeht. Lassen sich damit auch durchscheinende Parfums machen, die Trägerin und Träger nicht hinter einer Duftwand verschwinden lassen? Gibt es Spannung im Duft durch Kontrast, wenn schon offensichtlich nicht zwischen den beiden namensgebenden Hölzern, so doch vielleicht zu anderen Bestandteilen des Parfums?
Mit diesen Fragen ging ich an den Duft heran. Und bekam zunächst keine Antwort. Denn ich roch fast nichts. Die großen 4-ml-Herstellerproben der Hermessencen sind zum Tropfen und haben keinen Sprühkopf. Das Wenige, das ich auf mein Handgelenk bekam, war viel zu dezent. Also wurde der Rest der Probe in einen 10(12?)- ml-Taschenzerstäuber gefüllt. Zwei volle Sprühstöße – also eine wirklich große Menge – scheinen die richtige Dosis zu sein, möchte man selbst etwas für zumindest 9 Stunden von dem Duft haben. Für eine kräftige Sillage reicht das freilich immer noch nicht, aber das passt ja zum Konzept der bewusst auf Hautnähe ausgelegten Hermessencen.
Der Start Santal Massoïas ist überraschend grün-herb-frisch. Ohne Lesen der anderen Kommentare wäre ich nicht auf Feigenblatt gekommen, was ich durchaus stimmig finde. Ich hätte auch zugestimmt, wenn mir jemand glaubhaft versichert hätte, hier das grüne, frische und blumige Lilial zu riechen. Damit will ich auch sagen, dass diese frische Note für mich schwer zu greifen ist. Sie bleibt abstrakt, zurückhaltend, schwingt aber lange mit und prägt den Charakter des Parfums entscheidend mit. Dazu gesellt sich sehr schnell eine Irisnote. Keine Karotten-Buttercreme-Iris wie in Ellenas Different-Company-„Bois d’Iris“, sondern die metallisch-kühle und pudrige synthetische Iris à la „Dior Homme“. Fast zeitgleich betritt ein Hauptdarsteller die Bühne: Milch. Eine handwarme, ganz leicht süßliche Milch, vielleicht mit einem Hauch Karamell (wie die Milch glücklicher bretonischer Kühe). Nicht fettarm, Landmilch. Sehr ähnlich der Milchnote der grandiosen (und kommerziell grandios gefloppten) Weihnachtsbaumkugel „Le Feu d'Issey“ oder des schräg-schönen „Poivre Piquant“. Die beiden Beispiele zeigen, dass Milch keine ganz einfache Note ist. Die zugrunde liegenden Duftstoffe, Lactone, wurden schon in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts weißen Blütenakkorden zugesetzt, um eine cremige olfaktorische Textur zu erzielen. Als eigenständige Milchnote freilich empfinden sie manche als sauer, andere als angebrannt. Ich glücklicherweise nicht. Ich habe keine Ahnung, ob nun der gleiche Duftstoff wie in „Le Feu d'Issey“ oder „Poivre Piquant“ Verwendung fand, Massoialacton oder ein Massoiarindenauszug. Recht sicher bin ich mir, dass der milchige Eindruck nicht nur aus dem Sandelholz kommt – dafür kommt er zu früh und deutlich. Ab der frühen Mitte fügt er sich in ein wunderbar keksiges, fluffiges Sandelholz (was mich sehr an das in „Dries Van Noten“ erinnert). Und jetzt wird klar, dass die bisherigen Noten nur das Vorspiel waren. In diesem Sandelduft sind Milch und mit Abstrichen Iris immer noch zu riechen, ihre Hauptfunktion haben sie aber schon erfüllt: den Blick (bzw. das Riechen) auf den milchigen Aspekt des Sandelholzes zu fokussieren.
Über dem Duft schwebt weiterhin die grün-herbe Note, dezent, aber präsent. Wie ein Oberton hebt sie das milchige Sandelholz, hellt auf und gibt Frische. Durch den Gegenpol wird die Sandelholznote zusammen gehalten und verliert sich nicht in ihr sonst nicht fremder Breiigkeit. Der Effekt dieses grün-herben Hauchs auf den Gesamtcharakter Santal Massoïas ist nicht zu unterschätzen – und dann doch wieder typisch Ellena und seinem Spiel mit Kontrasten.
Nach 6 Stunden mündet der dann sehr hautnahe Duft langsam in die Basis, in der die Sandelholznote durch Tonka ergänzt wird. Der Geruch gerösteter Haselnüsse deutet darauf hin, dass nicht synthetisches Cumarin, sondern natürliche Tonkabohne Verwendung fand. Jedenfalls passt die Nussigkeit hervorragend zum milchigen Holz.
Mittlerweile ist die zweite 4 ml-Probe angebrochen und bald wird auch diese leer sein. Also scheint Santal Massoïa 1. nicht wirklich ergiebig zu sein und 2. mir gut zu gefallen. Beides stimmt. Wer möglichst viel Haltbarkeit fürs Geld haben möchte, wird damit nicht glücklich. Mir gefällt es aber bei jedem Tragen besser. Die Sandelholznote des bereits erwähnten „Dries Van Noten“ finde ich wunderschön, aber nach einigen Malen des Ausprobierens wurde der Duft mir schnell langweilig. Santal Massoïa hingegen mit frischen Gegenpol bleibt spannend und anregend. Das geht weit über eine rein akademische Wertschätzung hinaus, dass es möglich ist, einen transparenten und schwebenden Sandelholzduft zu erschaffen: Mir bringt es Spaß, dieses Parfum zu tragen. Dass es sehr hautnah ist, empfinde ich als Vorteil – nicht jeder kann sich damit anfreunden, Sandelholz einmal ganz untypisch inszeniert zu riechen. Aufgrund kaum vorhandener Sillage kann ich Santal Massoïa trotzdem immer und überall tragen. Nicht, dass ich das will – dafür ist er auch mir zu speziell. Aber schön zu wissen, dass ich es könnte.