Es war Herbst geworden.
Die Sonne schien noch immer warm, doch ihre Strahlen hatten an Kraft verloren, an Hitze, sie drangen nicht mehr durch alle Kleidungsschichten hindurch bis unter die Haut.
Morgens wurde er nicht mehr vom Konzert der Vögel geweckt, die ihr Repertoire täglich zu erweitern schienen und denen er noch im Halbschlaf gelauscht hatte, bis das Fiepen des Weckers endgültig der Nacht ein Ende setzte.
Sie waren noch nicht alle fort, nein, nicht alle, doch das Orchester war deutlich geschrumpft.
Wenn er aus dem Haus ging, raschelte das Laub unter seinen Füßen, jeden Tag ein wenig mehr – er liebte das Geräusch seit seinen Kindertagen, das Knistern und Knacken, das sanfte Schaben und das Flirren, wenn der Wind die Blätter vor sich her trug.
Golden rochen sie und würzig, warm und ein wenig salzig und wie manche der Gewürze in Großmutters altem Gewürzschrank.
Sie hatte ihn gescholten, wenn er durch das knöchelhohe Laub geschlurft war, um die Musik der alten Blätter zu spielen, hatte ihn ermahnt, die Füße zu heben, die Absätze zu schonen – der Schuster war teuer gewesen, damals auf dem Dorf, dafür hatten sie kein Geld gehabt.
Er lächelte bei der Erinnerung – rund war sie gewesen und resolut, seine Großmutter, hatte selten ein Blatt vor den Mund genommen und das gehabt, was man "das Herz am rechten Fleck" nannte.
Und sie hatte den besten Apfelkuchen der Welt gebacken, fiel ihm wieder ein, während er auf der Bank saß und sein Gesicht der Sonne entgegenhob – jetzt war die Zeit dafür, jetzt würde sie in der Küche stehen und die Äpfel schälen, würde den Teig kneten und ihm Fragen stellen und plaudern, während er am Tisch saß und auf seinem Marmeladenbrot herumkaute, wenn...
Ja, wenn sie nicht gestorben wäre, eines Tages im November, einfach so.
Man hatte sie im Stall gefunden, halb unter der Kuh, die sie gerade gemolken hatte, die Milch im Eimer noch warm.
Er seufzte.
Es war lange her, seit er ein Junge gewesen war, sehr lange.
Er wußte nicht mehr genau, der wievielte Herbst es war, den er nun erlebte.
Es schien nicht wichtig zu sein, nicht so wichtig wie andere Dinge.
Bald würde sie kommen, das wußte er.
Er würde ihre leichten Schritte hören, das näherkommende Rascheln des Laubes, das dort enden würde, wo er saß, wo er jeden Tag saß, den ganzen Frühling schon und den Sommer, Tag um Tag, immer zur gleichen Zeit.
Er hatte Glück gehabt, es hatte nie geregnet in all den Monaten, nicht um diese Zeit, nicht auf diese Bank, auf der er saß und auf sie wartete.
Und sie war gekommen, jeden Tag, am Mittwoch wie am Sonntag, immer zur gleichen Zeit, hatte sich neben ihn gesetzt und geschwiegen, einfach geschwiegen, so lange, bis sie wußte, daß er sich an sie gewöhnt hatte, daß es gut war, gut und richtig.
Er hatte neben ihr gesessen und gewußt, daß sie es war, die dort saß, nicht irgendjemand anders, keine Fremde, die zufällig vorbeigekommen war.
Er hatte ihrem Atem gelauscht, ruhig und tief und so gleichmäßig wie ein Metronom.
Wenn der Wind günstig stand, hatte er ihren Duft zu ihm getragen, der sanft war und warm, leicht und hell wie ein Windhauch vom Wasser und so süß wie die getrockneten Marillen seiner Kindheit.
Er vermischte sich mit den Blüten dicht an der Bank und weit hinten im Park – Maiglöckchen waren es im Frühling gewesen und der pudrige Samt der Veilchen, die nah stehen mußten, sehr nah, denn so weit trug ihr Duft nicht, das wußte er.
Im Sommer verwob er sich mit den Rosen, die von Wässrig-Rosableich bis hin zum tiefsten Schwarzrot die gesamte Farbpalette umfaßten, sie hatte es ihm erzählt.
Mit dem Gesumm der Bienen kam ein Hauch von Nektar, aufgewirbelt von den hellen Schwaden des Springbrunnens, geerdet von den Aromen des rauschenden Blätterdachs über seinem Kopf und dem rauhen, dunklen Holz des Baumstamms.
Jetzt war sie anders, die Luft, nicht mehr seidig und schwebend wie ein zarter Chiffonschal – ein wenig zu knistern schien sie in der gebrochenen Wärme des Oktobers, knusprig fast von der brüchigen Trockenheit des gefallenen Laubs.
Bald würde sie die Klingen hervorholen, die schmalen eisigen, die ihm ins Gesicht schnitten und in die Hände – doch noch war Zeit, noch...
Manchmal, wenn er nicht schlafen konnte in den Nächten, versuchte er sich vorzustellen, wie sie aussehen mochte, ob sie groß war oder mütterlich weich, ob ihre Haare gelockt waren oder unter einem Tuch verborgen, ob ihre Haut so warm sein mochte wie ihre Stimme.
Leise sprach sie und sehr klar – er dachte sich, daß sie nicht mehr ganz jung sein konnte, daß sie schon manchen Sommer gesehen hatte und manche Härte.
Immer war sie freundlich gewesen und zurückhaltend, hatte heiter geklungen und manchmal nur ernst, hatte ein Lächeln sich durch Vokale und Silben gewebt und sich in seine Mundwinkel geschmiegt.
Es fühlte sich gut an, an sie zu denken, an den Klang ihrer Stimme und die Melodie ihrer Sprache, an ihr Lachen ebenso wie an ihr Schweigen.
Und an das warme Gefühl in seinem Bauch, das mit ihr gekommen war, eines Tages, als er gemerkt hatte, daß er auf sie wartete.
So wie jetzt.
Jeden Augenblick würde es so weit sein, würde er das leise Klacken ihrer Absätze hören, die näher kamen, das Laub aufwirbelnd immer näher, um haltzumachen dort, wo er saß, wo er immer saß, würde die Bank leise knarren unter dem Gewicht, das sich neben ihm niederließ.
Er lauschte.
Er lauschte noch immer, als der Parkwächter seine letzte Runde begann.