1913 stand alles zum Besten. Europa blickte auf eine glorreiche Vergangenheit und eine leuchtende Zukunft. Die Kultur stand in höchster Blüte, die Technik entwickelte sich schwindelerregend: Auto, Luftschiff, Flugzeug, elektrische Straßenbahnen, Funktechnik. Was es noch an Armut gab, würde bald das Wirtschaftswachstum beseitigen, das seit Jahrzehnten ungebrochen und hochdynamisch war. Krankheiten würden bald durch die Fortschritte der Medizin und Hygiene besiegt. Seit fast einhundert Jahren gab es keinen wirklich großen Krieg mehr in Europa. Gewiss flackerte hier und dort etwas auf und gewiss planten die Generalstäbe alle Eventualitäten durch. Aber gewiss würde niemand so etwas Altmodisch-Verrücktes zulassen wie einen Krieg. Man lebte schließlich nicht mehr zu Zeiten Napoleons! Pulsierender Handel und aufstrebende Industrie verband die großen Metropolen Europas, Luxuszüge schossen mit Höchstgeschwindigkeiten zwischen Paris, Berlin und Sankt Petersburg hin und her, und diejenigen, die sie Erster Klasse benutzten, verbrachten ihre Tage und Nächte, gleich in welchem Land sie waren, in den neuesten Grand Hotels mit französischen Köchen und unerhörten Annehmlichkeiten wie elektrischem Licht und Toiletten mit Wasserspülung. Die ganze Welt war europäisch, und wenn es Länder außerhalb Europas gab, die es in hundert oder zweihundert Jahren vielleicht einmal mit Europa würden aufnehmen können, China oder Japan vielleicht, dann genau in dem Maße, wie sie in der Lage sein würden, sich europäische Wissenschaft, Bildung und Kultur anzueignen.
Feinnervige Beobachter konnten die Risse, Widersprüche, Spannungen und Abgründe sehen. Das Ansteigen der Flut des Nationalismus überall; ideologischer Rassismus und Antisemitismus; ein fast überall fehlendes Frauenwahlrecht; eine schärfere Unterdrückung der Homosexualität als in der arabischen Welt; Arbeiter ohne Rechte; ungelöste Nationalitätenfragen überall: nicht nur im Zarenreich und in Österreich-Ungarn, auch in Großbritannien, zu dem damals noch das ganze Irland gehörte (das anfing, für die Unabhängigkeit zu kämpfen). Dann die gewaltigen Rüstungsanstrengungen mit der Entwicklung immer tödlicherer Waffen; die Grausamkeiten und die Ausbeutung in den Kolonien, hinter Phrasen von zivilisatorischer Mission nur schlecht verborgen. Aber es gab wohl fast niemanden, der sich nicht sicher war oder hoffte, dass sich diese untergründigen Spannungen würden entschärfen lassen, im Zeichen von Aufklärung, Fortschritt, Reform, Vernunft und Wissenschaft.
Es genügte 1913 nicht, Pessimist zu sein, um in diesem prächtigen, kraftstrotzenden Jahr vorauszuahnen, dass es schon das Gipfeljahr der europäischen Welt sein sollte, ein Kipp-, Letztlings- und Wendejahr. Man musste schon echter Apokalyptiker sein, um auch nur einen Hauch davon zu vorauszuspüren, in welchen Strudel der Selbstvernichtung, in welches kreischende Delirium der Kontinent die nächsten vierzig Jahre versinken sollte, wie er bis zur tödlichen Erschöpfung nicht damit würde aufhören können, seine eine unermesslich groß gewordenen Energien gegen sich selbst zu entfesseln.
Da ich Europa liebe, denke ich oft daran, wie es heute aussehen könnte, wäre es gelungen, die Weichen 1913 in eine andere Richtung zu stellen. Wenn nicht die europäischer Wirtschaft erst in den 1960-er Jahren wieder die Stärke des Jahres 1913 erreicht hätte - die Züge in Europa haben auf vielen Strecken die Geschwindigkeit des Jahres 1913 übrigens nie mehr erreicht. Wenn all diejenigen, die auf den Schlachtfeldern und in den Lagerhöllen umkamen, all diejenigen, die wahnsinnig oder verstümmelt wurden, die emigrieren mussten, wenn sie stattdessen hätten weiter in Edinburgh, Metz, Königsberg, Thessaloniki und Charkiw lieben, lernen, träumen, Kinder zur Welt bringen und arbeiten können, bis sie lebenssatt gestorben wären.
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Violette Précieuse, das kostbare Veilchen, erschien 1913 im Hause Caron. Wie seine Formel ursprünglich lautete, wie die korsettierten Damen und zwirbelschnurrbärtigen Herren empfanden, als dieser Duft ihnen in die Nase stieg, weiß ich nicht. Caron edierte im Jahr 2017 erneut einen Duft dieses Namens, von dem auch die Parfumo-Redaktion nicht herausfinden konnte, ob er an den ursprünglichen Duft angelehnt ist oder nur seinen Namen aufgreift. Was mich verwundert und betrübt hat, ist, dass auch dieser wunderschöne 2017-er Duft, für dessen Probe ich Sniffsniff von Herzen danke, schon wieder eingestellt ist. Auch nach mehrfachem Umdrehen des gesamten Internets konnte ich nirgends eine Spur von einem Angebot zum Kauf frischer Flakons davon finden.
Violette Précieuse ist ein strahlendheller, gleichsam von innen intensiv violett leuchtender Duft, der, wenn man ihn ein wenig dreht und wendet, aber auch in einem junihaften, kraftvollen (ein bisschen unwirklichen) Hellgrün prangen kann. Der Duft ist vollkommene Harmonie, klassizistisch schwereloses Gleichgewicht. Kristallklare Noten von Maiglöckchen, Veilchen und Himbeere spannen ein perfektes Dreieck auf, einen Duftspiegel, auf dem sich kein Stäubchen niederlassen kann. Vom Holz kommt keine Härte, sondern bloß Festigkeit und Struktur. Vom Moschus keine Weichheit, sondern nur die nötige Fülle. Violette Précieuse ist ein kühler, aber kein kalter Duft. Er ist schlicht, aber alles andere als banal; er ist nichts weniger als seelenlos, oh nein! - aber das ist er mit größter Präzision.
Mit dem Jahr 1913 hat der Duft gemeinsam, dass er erz-europäisch ist: beste klassische westliche Duft-Tradition, fest floral verankert. Ein apollinischer Duft: vernünftig und optimistisch. Er hat etwas von Vollendung und Selbstgewissheit, eine lange Geschichte liegt hinter ihm. Von Abgründen und nervösen Übertreibungen, von Dekadenz will er nichts wissen.
In anderer Hinsicht weist Violette Précieuse eher auf die 20-er Jahre voraus, an die das betörend schöne Art Déco des Flakons (vielleicht meine Lieblings-Design-Epoche) angelehnt ist: Das Streben nach Helligkeit und Klarheit, die Abneigung gegen Schnörkel und Ornamente. Der Duft ist zwar nicht unbedingt Bubikopf, Zigarettenspitze und Herrenanzug, dafür ist er noch zu klassizistisch und traditionell feminin (obwohl er an Männern funktionieren kann). Aber noch viel weniger ist er Korsett. Was ist er dann? Der perfekte Duft zum Stirnreif mit Feder und zum sexy Charleston-Kleid des Jahres 1923. Oder vielleicht doch zur eleganten Nacktheit der 1913 aufgestellten Kleinen Meerjungfrau.
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Geschrieben im Banat, bis 1913 aufstrebende europäische Kernlandschaft, seit 1918 zwischen drei Staaten zerstückeltes Grenz- und Randland.