Die „Italienische Nase“ nennt man sie. Laura Tonatto gilt als Italiens Star-Parfumeurin. Sie arbeitet bei diversen großen Häusern (L´Oreal, Armani,…), hat mit Rekreationen von angeblich aus dem 18. JH stammenden Klosterformeln maßgeblich zum Profil des Nischenlabels Carthusia beigetragen und unter eigenem Namen eine Kollektion mit einigen bemerkenswerten Düften auf dem Markt.
Chandler Burr vergleicht ihre Parfums mit Bildern von Rothko, Klee und Kandinsky und ich bin mir sicher, dass sie, sollte sie mal mit Jean-Claude Ellena bei irgendeinem Kongress eine gemeinsame Kaffeepause einlegen, sich blendend mit ihm verstehen würde. Die beiden würden leidenschaftlich fachsimpeln über den puristischen, aufs Minimum beschränkten Einsatz von Duftnoten, die am schönsten und wirkungsvollsten „nebeneinander stehen“ sollten, um in ihrer nur sacht vermittelten Bindung Bezug auf- und zueinander zu entwickeln. So einig sie sich wären, was Transparenz und größtmögliche Freiheit der Akkorde angeht, so unterschiedlich sind jedoch ihre Ausgangspositionen. Die Italienerin Tonatto und der „Grassois“ Ellena… ihre Parfumkunst kommt vom „typisch Italienischen“ her und seine vom „typisch Französischen“ - und beide haben sich ausgehend von ihren Wurzeln sehr weit und selbständig weg bewegt.
Einer von Laura Tonattos Düften für Carthusia ist „Ligea“.
Ligea, „die Helltönende“, eine der Sirenen, halb menschlich und zur anderen Hälfte, je nach Quelle, entweder Vogel oder Fisch, saß mit ihren Schwestern auf einem Meeresfelsen (eine Quelle nennt die Carthusia-Heimatinsel Capri) und trieb mit ihrem überirdisch schönen Gesang die vorbei schippernden Seeleute in Wahnsinn und Tod. Ein in vielen Kulturen immer wieder auftauchender Mythos (vgl. Lorelei), wo ein weibliches Naturwesen kulturell transzendent aktive (nämlich das Wasser befahrende) Männer vom Weg abbringt und an der Natur tödlich scheitern lässt. Klar ist das, was da verlocken und vom Weg der Kultur abbringen soll, eine Mischung aus Schönheit, Begierde und unwillkürlich, direkt wirkender Kunst.
Parfumerie und Musik sind sich sehr ähnlich in ihrer unvermittelten Wirkung… die Assoziationssphäre der Sirene Ligea für einen Duft aufzurufen ist also nicht nur wegen des Capri-Bezuges einleuchtend. Ich erwarte einen verführerischen, weiblichen, helltönenden und mystisch angehauchten Duft, der unmittelbar wirkt und eine abstrakte wie absolute Idee von Schönheit transportiert.
Ich erwarte nicht unbedingt Puder.
Tatsächlich ist Ligea aber ein ausgesprochener Puderduft.
Er ist auch gebührend verführerisch, weiblich, helltönend und mystisch angehaucht - aber das mit ganz viel Puder.
Neben dem dichten Puderstaub ist die stark ausgeprägte Linie von ordentlich viel Opoponax auffällig: Ligea ist ein Opoponax-Puder-Duft.
Opoponax wird in der Pyramide nicht aufgezählt, dennoch bin ich mir eigentlich recht sicher. Vielleicht verbirgt sich die Opoponaxnote hinter "somalischen Weihrauch"... natürlicher Opoponax kommt fast ausschließlich aus Somalia und entweder der Akkord wurde einfach mal "Weihrauch" genannt oder der somalische Weihrauch (Boswelia sacra), dem nachgesagt wird, er habe nicht den leisestesten zitrischen Hauch und keine Quasi-Schärfe, wie anderer Weihrauch, riecht sehr, sehr typisch opoponaxig. Auf jeden Fall finde ich meine Opoponaxvermutung so passend, dass ich bei dem Wort bleibe, denn egal, was verwendet wurde... es riecht einfach nach Opoponax.
Die Mandarine am Start ist, in den 10 Minuten, in denen sie vordergründig duftet, ausnehmend mandarinig. Hell-zitrisch, heiter und dabei süß und saftig, ohne die Herbheit und Säure von zitronigen Agrumennoten. Bald schon kommt der den Duft dominierende Opoponax.
Opoponax ist ein Harz, das auf eine sehr helle Art rauchig anmutet, ziemlich süß, ein wenig pudrig und würzig, ausnehmend naturhaft, sehr breit und sich ausdehnend anmutend. Er wird auch „die süße Myhrre“ genannt und hat neben dem Warm-Süßen und Harzigen eine ganz leichte florale Beinote, die oft mit Lavendel verglichen wird. In diesem Parfum wird das unmissverständlich betont, denn in der ersten Hälfte des Herz-Verlaufs ist dem Opoponax mit ziemlicher Sicherheit Lavendel zur Seite gestellt. Ganz überraschend bin ich in dieser Phase heftig an Jicky erinnert. Mandarine plus Lavendel scheint der Grund.
Diese Jicky-ähnliche Phase wird nach wenigen Minuten so stark bepudert, dass die Erinnerung immer undeutlicher wird, bis der nun lange andauernde Hauptcharakter von Ligea entwickelt ist: Opoponax und Puder.
Die in der Duftpyramide erwähnte Rose gesellt sich zum Lavendel und ergibt eine helle, florale Melodie, die den Puderopoponax während des weiteren Duftverlaufs begleitet. Sie ist nicht besonders rosig. Frisch, jung, hell, zartpink und nur halb aufgeblüht, eher heckenrosig, hat sie keinen typisch vollen oder gar reifen Rosencharakter.
Der Opoponaxakkord wird nun immer weiter reichend differenziert und auf allen in ihm steckenden Ebenen ausgeführt. Der Duft wirkt hell und darunter dunkel, ungemein klar und darunter opak, durchlässig und darunter dicht, leicht und darunter schwer, weich und gleichzeitig rau, süß und gleichzeitig leichtherb.
Wenn man Opoponax nachspüren und erfahren will, ist dies (auch wenn oben nicht aufgezählt) die ultimative Opoponaxlust. Schillernd, changierend, auslotend und die Vielfalt und Breite dieser Note auskostend, ohne dadurch jemals beliebig oder breit zu werden.
So wichtig der Puder hierbei ist, übernimmt er jedoch zu keiner Zeit das Zepter, sondern dient beflissen der Opoponaxlinie. Es ist kein Irispuder, sondern ein unbestimmter Dunst aus synthetischer Iriswurzel, Moschus und der leichten opoponaxeigenen Pudigkeit.
Sehr verführerisch, ohne eigentlich sexy zu sein. Sehr eigen, ohne mit Eigenheit herausfordernd zu sein. Sehr weiblich, sanftmütig, anmutig, ohne dadurch spannungslos und blutleer hold zu sein.
Ein schönes Lied singt sie da, die Sirene auf Capri.
Nicht wirklich ein Grund für die Riechenden, sich in die Wellen zu stürzen und zu ihren Füßen an den Felsen zerschmettert zu werden.
Eher ein Grund, sich von einem wunderschönen, bepuderten Opoponax gute Laune machen zu lassen und in diese reiche und softsinnliche Duftnote tief einzutauchen.
Eher sich versenken als versinken.