FvSpee
24.09.2020 - 18:10 Uhr
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Top Rezension
8Duft 5Haltbarkeit 5Sillage

Colonialwaren XII: Kiesel. Ein Männerköln.

Ja, cool oder: "Kiesel. Ein Männerköln". Was für ein geiler Name für ein Parfüm! Und mit echten Kieseln drin, früher vom Parfumeur persönlich selber im Staate New York aus dem Flussbett des Hudson River geklaubt und in Handarbeit in die Flaschen reingestopft. Nee, heute nicht mehr, da werden die Flaschen wahrscheinlich aus Indien mit Steinen fertig drin angeliefert und das Köln wird drübergegossen. Sieht aus wie "On the Rocks", und ist auch - exakt das.

Kiesel ist kein Duft, der zu mir passt. Ich werde ihn mir nicht zulegen. Warum auch immer, es funkt nicht richtig. Aber es ist ein toller, absolut origineller Duft, wie auch schon der vorige, den ich in dieser Serie behandelt habe. Und Kiesel ist fast arche- oder prototypisch das, woran ich gedacht habe, als ich diese Serie eröffnete: Ein "braunes Cologne".

Denn es ist einerseits sehr stark der klassischen Cologne-Tradition verhaftet: Nicht allzu lange haltbar, dezente Sillage, starker Akzent auf zitrischer Frische. Andererseits hat er aber diesen zarten, hellbraunen Einschlag, der das Colognige aber nicht erschlägt, sondern ihm seinen Platz lässt und es nur ergänzt. Dieses hellbraun ist hier weniger gewürzig (Nelke usw.) oder holzig, sondern erdig, ja fast lehmig. Von der olfaktorischen Tonalität her erinnert mich Kiesel damit an Eau de Memo, obwohl das Memowasser ganz anders riecht (der hellbraune Dialogpartner der Orange ist dort weiches Leder) und obwohl ich mich in Memo verliebt habe und in dieses hier nicht.

Kiesel eröffnet mit einer leicht cremigen und würzigen, sehr speziellen hellen Zitrik, sich dann relativ schnell (ich greife hier vor) ins mildorangige verschiebt. Das ist nie sauer und nie vordergründig fruchtig, sondern immer schon vornehm sanft. Zu diesem zitrischen Pol gehört von Anfang an eine gewisse Süße. Sprüht man sich normal ein, riecht man sie nicht; drückt man die Nase an den Arm, dringt sie stark durch (da riecht es am Anfang dann eher wie "A Boy's Cologne", aber in freier Wildbahn rennt man ja auch nicht unmittelbar nach dem Sprühen mit der Nase auf dem Arm durch die Gegend). Mit der Zeit setzt sich das Ganze und der zitrische Pol ist, bis zum Ende dann, am ehesten als mildorangig und sehr zart honigsüß anzusprechen.

Nun zum hellbraunen Gegenpol. Hier ist schon in der prä-orangigen, ganz hellen Eröffnung etwas Mineralisches präsent (ich hatte ein Tetspröbchen, keinen Flakon, wurde also nicht durch Steine optisch beeinflusst, aber die Einbildung kann natürlich viel erreichen). Das sortiert sich bald in in eine sehr spannende erdig-lehmige Richtung, für die ich Patschuli, die Kieselsteine und die Anfänge von Weihrauch und Vetiver verantwortlich machen würde. Dieser lehmige Ton bleibt immer angenehm warm, schmeichelnd balsamisch und ein klein bisschen würzig.

Interessanterweise wird es dann im Abgang nicht etwa süßlich, wie sehr oft in Herrendüften. Michael B. Knudsen, der Erfinder, hat es tatsächlich irgendwie geschafft, die Tonkabohne eher zu Beginn und in der Mitte festzunageln. Das (nach etwas drei Stunden nahende) Ende imponiert dann eher herb-trocken, hier dürfte der Weihrauch dann voll durchschlagen.

Obwohl Kiesel ein Köln für sanfte Männer ist (und es dem Träger und der Umwelt nicht voll auf die Fresse gibt), nehme ich es zum Glück nicht als fluffig und weichgezeichnet wahr. Dies zur Entwarnung, weil Moschus hier großgeschrieben wird in der Pyramide.

* * *

Zur Firma hat Apicius in seinem Kommentar ganz unten schon vieles gesagt. Für die, die nicht runterscrollen wollen: Olle Knudsen wandert aus Europa in die USA aus, bewegt sich dort im Dunstkreis des Broadway und seiner Stars und gründet 1957 ein Dufthaus mit genau einem Duft im Angebot. Diesem. Und da stopft er die Steine aus dem Hudson River rein. Dann geht die Firma ein, Knudsen stirbt und der Duft wird discontinued.

Die Fortsetzung, die nicht bei Apicius steht, kann man auf gravelcologne.com nachlesen. Wenn es denn stimmt, was da steht, lieben ein Vater und sein Sohn (Georg und Christian Blessing) beide den Duft, sind traurig, dass es ihn nicht mehr gibt und machen sich auf die Suche nach den Namensrechten, den Duftrezepten und dem Zeug und gründen die Firma schließlich neu. Der Duft feiert Wiederauferstehung. Und weil man heutzutage von einem Duft nicht leben kann, werden noch vier andere Düfte auf den Markt geworfen, im selben Design (zwei im Jahr 2019, zwei weitere heuer).

Wo die neue Firma ihren Sitz hat, wird nicht gesagt, die Namen der neuen Inhaber klingen deutsch und der Preis wird in Euro angegeben, auch auf der englischen Version der Seite.

Was Knudsen seinerzeit verlangte, weiß ich nicht, Blessing sen. und jun. wollen 149 Euro für die Pulle haben, sowohl im firmeneigenen Onlineshop, als auch, identisch, bei ALZD, Bräuninger und parfumdreams, was für eine straffe Vertriebsorganisation spricht.

* * *

Wie eingangs bemerkt: Kein Duft für mich, aber für diejenigen, die 150 Euro für ein Cologne ausgeben möchten, die Steine und die Firmengeschichte witzig finden und sich ins Design der Flasche verlieben, mindestens ein sicherer Testkandidat.
30 Antworten
AxiomaticAxiomatic vor 2 Jahren
Den Duft auf dem Handrücken und gemütlich auf der Couch lümmelnd genieße ich Deine wunderbare Beschreibung des Duftes.
Ich bekomme zwischenzeitlich eine animalische Note.
Wieder ein Genuss von Rezension!
🏆
GoldGold vor 5 Jahren
Wieder was gelernt... Memo gefällt mir ja auch so extrem gut. Wenn der in die Richtung geht... who knows?
TorfdoenTorfdoen vor 5 Jahren
1
Obwohl Preis und Durchhaltekraft dagegen sprechen, klingt alles Weitere verlockend. Ich bleibe mal neugierig.
YataganYatagan vor 5 Jahren
Ich habe den auch positiv bewertet, aber ich habe mich bei dem gelegentlich gefragt, ob es z.T. auch meine Begeisterung für Klassiker ist, die dem hier einen Bonus beschert hat.
AzaharAzahar vor 5 Jahren
1
Mein Übersetzungsprogramm in Browser fängt zwar auch so gut an, aber dann flacht es komplett ab. Im Gegensatz zu diesem schönen Text, der nach dem Kalauer noch richtig losgeht. Gern gelesen, danke.
Finchen1976Finchen1976 vor 5 Jahren
Ich hab bei Deinem Anfang gedacht "Wat quasselt der denn da?! Kiesel Ein Männerköln?! Häääää?" :-D Auf jeden Fall ein steiniger Kiesel-Pokal. Das Flakondesign find' ich ganz witzig, auch, wenn das auf den Fotos so aussieht wie angegilbte Zahn-Fragmente (sorry, ich guck' zuviel Thriller ^^). :-) Toller Kommi und trotzdem gute Bewertung von Dir. Nur das Flakon-Design haste nicht bewertet! ;-)
SchatzSucherSchatzSucher vor 5 Jahren
Huch, da ist mir doch glatt dieser vorzügliche Kommentar entgangen... Es ist doch eine gute Erkenntnis, daß man nicht jeden Duft unbedingt haben muß, nur weil man ihn gut findet. Oft reicht auch schon die Testerfahrung völlig aus.
MörderbieneMörderbiene vor 5 Jahren
1
Wenn jetzt noch etwas Moos auf den Kieseln wäre...
Der war durchaus gut gemacht, nur konnte er mich letztlich nicht überzeugen.
SiebenkäsSiebenkäs vor 5 Jahren
Spannender und unterhaltsamer Kommentar - bin wie versteinert ob der Ingredienz „Kiesel“... (was, wenn hier die IFRA allergenbesorgt eingreift? Bims als Ersatz?) Auf jeden Fall ein spülmaschinenfester Steingut-Pokal für dich!
Jas0NJas0N vor 5 Jahren
Wie immer ein Danke für die äußerst präzise und lebende Beschreibung. Ich glaube aber, dass dies keiner für mich ist...
FlirtyFlowerFlirtyFlower vor 5 Jahren
Hm... Kiesel im Duft ist doch auch interessant oder? Ich mag mein Rain deswegen so gern, weil es einen Akkord von Kopfsteinpflaster bei Regen hat *schön-oder*... Kiesel klingt nach einem interessanten Duft, wobei ich nicht wusste, dass auch orangige Düfte als Cologne zählen... Du hast ihn sehr schön beschrieben, aber ich würde auch eher zum Kolanya greifen =D Pokal
TablaTabla vor 5 Jahren
Oh Gott.. Kieselsteine aus dem Hudson in einem Parfum sind für mich ähnlich originell, wie etwa diamantenbesetzte Hubschrauber.
…egal, wenigsten klingt der Duft testenswert.
Sehr lesenswerter Kommentar, wie immer.
Zauber600Zauber600 vor 5 Jahren
3
Spannende Sichtweise - interessant und gerne gelesen. Pokälsche!
Für mich ein Duft der auf Augenhöhe mit Aramis agiert. Ersterer amerikanisch-frisch-süß mit üppig-balsamischen Noten - letzterer Bernard Chants Sichtweise eines amerikanischen Orientals und beide eine klare Ansage bezüglich H/S.
Cologne ist im amerikanischen umgangssprachlich übrigens eine Gattungsbezeichnung (Herrenduft) und keine für Duftkonzentration und Gravel Man's Cologne ist ein Eau de Parfum.
Genau! ;-)
KovexKovex vor 5 Jahren
Den hätte ich so gerne gemocht aber das wurde nichts mit uns. Dein Kommentar gefällt mir besser als der Duft.
Can777Can777 vor 5 Jahren
Wieder mal äußerst informativ. Den Duft selbst fand ich auch wirklich gut gemacht,aber für einen Kauf hatte es dennoch nicht gereicht. Kiesel-Pokal!
TtfortwoTtfortwo vor 5 Jahren
Das wäre noch nicht einmal ein Testkandidat für mich - bei allem Respekt für Deine eher zurückhaltende, aber durchaus wohlwollende Beurteilung. Weil sich da vieles kombiniert, was ich unter dem Motto "Nischenbimbam" zusammenfassen könnte: Gewollte Originalität (Steine im Duft? Hallo?) samt einer Preispolitik, die von unten her schon ziemlich am Absurden
TtfortwoTtfortwo vor 5 Jahren
kratzt - wir sprechen ja nicht nur bei Deiner, sondern auch der allgemeinen verdurchschnittlichten Performancebewertungen von einem eher schwachbrüstigen Kandidaten. Die Firmengeschichten-Geschichte finde ich allerdings ganz erfrischend, schön, wenn altes wieder hervorgekramt und zu neuem Glanz poliert werden kann.
CravacheCravache vor 5 Jahren
Ein ganz hervorragender Kommentar! Interessant und informativ.
MonsieurTestMonsieurTest vor 5 Jahren
Klasse Informationen zur Firmengeschichte und eminente Duftcharakterisierung.
Trotz hübscher Kieselsteine und festgenagelter Tonkabohnen könnten die nächsten Neugründer vielleicht noch ein bisserl am Preis schrauben?
GandixGandix vor 5 Jahren
Diesen Duft hast du uns wieder sehr interessant beschrieben.
FittleworthFittleworth vor 5 Jahren
Ausgezeichneter, sehr informativer Kommentar. Kiesel-Pokal!
ChizzaChizza vor 5 Jahren
Immer schön diese Informationen zu lesen, für ein Cologne aber wohl kein Schnäppchen
PollitaPollita vor 5 Jahren
Mir gefällt die Idee mit den Kieselsteinen. Wie immer vollgepackt mit zahlreichen Infos. Sehr gern gelesen.
JosefkaJosefka vor 5 Jahren
Tolle Geschichte, den werd ich bestimmt mal testen. Danke für den wieder mal großartigen Kommentar!
KonsalikKonsalik vor 5 Jahren
Im Rahmen einer archäologischen Ausgrabung durfte ich einmal lernen, wie nah eine schluffige Kieselschicht und nervtötend zäher Lehmboden beieinander liegen können; Insofern wirkt das Gesamtpaket durchaus schlüssig. Dennoch: 150€ für ein Cologne? Da bleibe ich beim "Russischen" von Harry...
PinkdawnPinkdawn vor 5 Jahren
Interessante Firmengeschichte. Das mit den Kieselsteinen aus dem Hudson River ist eine originelle Idee. Haben die Steine irgendeine Funktion oder ist das nur ein Gag?
SniffsniffSniffsniff vor 5 Jahren
Dass Du mich auch noch des letzten Funkens anachronistischer Manufaktur-Romantik zugunsten postimperialistischer Ausbeutungsrealitäten berauben musst, stimmt mich traurig. Ich kenne erst einen der indischen Kieseldüfte. Das war ein zahmer Oud, der gefallen, aber nicht umhauen konnte. Globalisierungspokal.
SeeroseSeerose vor 5 Jahren
Als ich noch in Gedanken an eine andere Angelegenheit den Kommentar von Dir hier aufrief und flüchtig Deinen Titel las, meinte ich "Männerköhm" zu lesen, also Männerkümmelschnaps (Plattdeutsch: Kö(h)m = Kümmel. Naja, kommt fast hin, aber nur fast:-)
Camey5000Camey5000 vor 5 Jahren
Ausführlichst beschrieben soll er auch noch seifig sein und dann ist das wirklich nichts für mich. Danke für die Aufklärung.
FloydFloyd vor 5 Jahren
Also testen würd ich den ja schon mal ;-) Wie immer toll beschrieben!