10.09.2013 - 02:15 Uhr
Pluto
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Pluto
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Eine großartige Frau
Ich bin in den 60er Jahren in einem 11-Parteien Mietshaus groß geworden. Meine Eltern gingen arbeiten, auch oft an den Wochenenden und ich war viel mir selbst bzw. meinen älteren Schwestern (12 und 8 Jahre Altersunterschied) überlassen. Man kann schon sagen, dass mich meine älteste Schwester groß gezogen hat, hab Dank dafür. Sie wäre bestimmt auch lieber einfach Kind gewesen, anstatt immer nur die Große und Vernünftige sein zu müssen. Aber darauf will ich jetzt gar nicht hinaus. Auf der 4. Etage lebte unsere Nachbarin, Tante L., sie war Kriegswitwe und die Seele des Hauses. Sie war an die 10 Jahre älter als meine Eltern und ihre Kinder waren schon aus dem Haus. Sie kümmerte sich um alle im Haus, sorgte bei Konfirmationen und Kommunionen dafür, dass das Haus geschmückt war, Geld gesammelt wurde und ein Geschenk gekauft wurde. Wer krank war, wurde bekocht und der Flur wurde für ihn mitgeputzt. Es war Nachbarschaftshilfe in einer Form von Nächstenliebe, die ich nie wieder so erlebt habe. Das Klima im Haus war – bis auf eine „Frau Kling“ – einfach gut. Ohne Klatsch und Tratsch, Tante L. war einfach zur Stelle, wenn Not am Mann oder der Frau war, ohne je irgendwie aufdringlich zu sein. Sie hat mich mit groß gezogen, liebevoll, mit Strenge, aber immer gerecht. Wenn ich im jugendlichen Übermut die Treppe mit 12 Stufen runter sprang (das hallte so schön, wenn ich die lose Steinplatte traf) ging nur ihre Türe auf und ich rief: „Ja, Tante L. ich weiß Bescheid!“ Und den Rest der 3 Etagen ging ich manierlich. Ab Teenageralter bekam ich von ihr Düfte zum Geburtstag, z. B. Janine D. , die sie in einer winzigkleinen Drogerie um die Ecke für mich kaufte, dort war vom Putzmittel bis zur Hormocenta Creme alles eng in Regalen bis zur Decke gestapelt. Richtig scharf war ich aber nur auf ihren Duft. Wenn sie das Haus verließ und in die Stadt ging, machte sie sich hübsch und adrett zurecht und legte ihren Duft auf. Der ganze Hausflur roch einfach wunderbar nach Blüten, hell und freundlich. Am liebsten wäre ich im Flur geblieben, bis auch das letzte Duftfitzelchen verschwunden war. Sie hat mir nie verraten, welchen Duft sie benutzte, …“dafür bist du zu jung, später….“ Sie starb an Krebs als sie Mitte 60 war, viel zu früh. Jahre später roch ich das erste Mal Madame Rochas und sofort tauchten Bilder aus den 60er Jahren auf und ich fühlte mich in meine Kindheit versetzt. Heute bin ich sicher, das war der Duft, den Tante L. trug. Ein wundervoller, eleganter Duft für gestandene, selbständige, großartige Frauen.
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