Frankreich. 29. November 1825. In Paris wird ein Junge geboren. Er bekommt den Namen Jean- Martin. Er wird einmal die Fachwelt revolutionieren. Nein, nicht in der Parfumerie. Er wird eines Tages die Fachwelt der Schulmedizin auf den Kopf stellen. Die Rede ist von Jean-Martin Charcot.
Dieser bekommt 1882 als leitender Arzt seine eigene Neurologie-Station im Salpêtrirère. Die erste in Europa überhaupt. Als Professor bildet er andere Ärzte aus, die später ebenfalls großartiges leisten. Georges Jilles de la Tourette (Tourette-Syndrom) gehört ebenso zu seinen Schülern, wie ein gewisser Sigmund Freud (Psychoanalytik). Charcot selbst arbeitet die meiste Zeit nebst neurologischen Grundlagen am Phänomen der Hysterie. Was neurologische Erkenntnisse angeht ist er sehr erfolgreich und kann Krankheiten ausmachen (isolieren), wie zum Beispiel: MS, ALS, HMSN, Charcot-Trias l und ll, Erb-Charcot Krankheit und viele andere. Dabei haben seine Entdeckungen Auswirkungen auf andere Bereiche in der Schulmedizin. Seine Arbeiten an der Hysterie hatten sogar Einfluss auf die Entwicklung bzw. Reformation von Therapieansätzen im Bereich der Alternativen Heilkunde. Denn bei seinen Forschungen zur Hysterie wendete er oft die Hypnose an. Er war wohl der Ansicht, dass Patienten bei der Hypnose sich vom "Hier und Jetzt" lösen können und somit bessere Einblicke auf die Hintergründe ihres Leidens gewähren. Sie sind imstande, durch "Raum und Zeit" zu gleiten und dabei Unterbewusstes sowie in ferner Vergangenheit liegendes "herauszukramen". Ähnlich ergeht es uns, wenn wir träumen.
"Träume"; das bildet auch schon die Überleitung zu "Versace - The Dreamer".
Die Alternative Heilkunde wurde schon angesprochen. Bei dieser gibt es unter anderem die Möglichkeit der Aromatherapie, die darauf abzielt, körperliche oder seelische Störungen mittels Essenzen zu behandeln. Mittels Aromen kann man aber auch Trance-Sitzungen oder Phantasiereisen gestalten. Genau dieses Prinzip macht sich The Dreamer zunutze. Bestimmte Zutaten sollen uns in einen Traumzustand versetzen. Die Hauptzutat dabei ist in der obigen Duftbeschreibung leider nicht aufgeführt. Doch ist sie verantwortlich für diese Phantasiereise. Es ist der Muskatellersalbei. Muskatellersalbei wird in der Aromatherapie gern für Séancen verwendet, wo ein Loslassen und Lösen erwünscht ist. Dazu kann es das Bewusstsein erweitern. Die optimale Voraussetzung für Träume oder Tagträume. Auch auf körperlicher Ebene hat er einen lösenden und entkrampfenden Effekt. Bei Versace's Dreamer wird Muskatellersalbei angereichert mit Lavendel und Bergamotte. Diese beiden Essenzen haben eine chemische Gemeinsamkeit mit Muskatellersalbei: die Kombination von Linalylacetat und Linalool. Sie machen weit über die Hälfte des jeweiligen Öls aus, manchmal 90% oder mehr. Weiterhin wird diese Note u.a. mit Wacholder, Salbei und Muskatnuss zu einem Akkord ausgebaut. Vor allem Muskatnuss hat ebenfalls die Fähigkeit, ins Bewusstsein einzugreifen und sogar Visionen bis hin zu Halluzinationen herbeizuführen (Hildegard Von Bingen - "Physica"). Setzt man diesem Akkord noch diverse Blütennoten zu, erhält man so etwas wie eine Base. Aber nur fast. Die wichtigste Komponente zum bilden einer Base ist nämlich im Fond verborgen. Der Amber, hier vermutlich mit Tabak verstärkt, verbindet sich mit dem genannten Akkord zu einer Base. Es ist schon eine sehr harmonische Base, weil Muskatellersalbei im Duft dem Amber ähnelt, aufgrund einiger Moleküle, die in beiden Aromen vorkommen. Zu den Blütennoten wäre noch anzumerken, dass wahrscheinlich Narzisse eine gewisse Rolle spielt. Die Narzisse spielt in der Aromatherapie eine Rolle, die hier sehr erwünscht ist. Sie hilft, selbsterwählte Barrieren zu überwinden und regt die Kreativität an. Auch wenn ich Narzisse hier nicht ausmachen konnte, ist es möglich, dass sie neben Geranium und anderen Blüten zumindest eine untergeordnete Rolle spielt. Durch andere Inhaltsstoffe, die alle aufzuzählen hier kein Platz ist, ergibt sich unter dem Strich ein Parfum, der seinem Namen alle Ehre macht.
Entgegen aller bisherigen Mutmaßungen und Annahmen ist dieser Duft eher natürlich als synthetisch. Es ist nur so, dass die Linalylacetat/Linalool Komponente in Muskatellersalbei, Lavendel und Bergamotte einen leicht medizinisch anmutenden Eindruck erweckt, was von vielen Nasen als synthetisch eingestuft wird.. Sie ist aber als luftig, steril und rein zu bezeichnen. Insbesondere Lavendel verfügt über diese Besonderheit. So sehr sogar, dass die Pflanze danach benannt wurde. Lavare bedeutet nämlich nichts anderes als "waschen".
Synthetik hin oder her. Letztendlich ist The Dreamer ein frischer Fougère mit Schwerpunkt auf Muskatellersalbei über einer blumig-würzigen Herznote. Die meiste Zeit über ist er ziemlich leicht und luftig, der dank der speziellen Ambernote auch so luftig ausklingt. Ein Duft, der zwar für Herren komponiert wurde, den aber Frauen ebenso gut tragen können, finde ich. Er erinnert schon ein bisschen an ewige Weiten des Weltalls. Eben wie ein Traum, versteckt im Universum. Sozusagen: Hinterm Mond, gleich links, ein paar Lichtjahre weiter, vorbei an einem schwarzen Loch, dort wo es schön und voller Liebe ist. Und keine Angst vor dem schwarzen Loch. Gedanken und Träume werden von ihm nicht angezogen.
Das ganze erinnert ein Stück weit an Musik der 80er. Neue Deutsche Welle. Da war ein "Goldener Reiter" über der Stadt. Ein Mann sah den "Sternenhimmel". Eine Frau sah "99 Luftballons" zum Horizont ziehen. Wer weiß, vielleicht können wir mit Hilfe von "The Dreamer" einmal abheben und wären "Völlig Losgelöst" von der Erde. Auf dem Rückweg von der "Düse Im Sauseschritt" könnten wir vielleicht die Liebe mitbringen. Wie das Mädchen von damals, das später einmal die erfolgreichste Musikerin Deutschlands werden sollte.
Entsprechend der Musik, an die ich mich erinnert fühle, vergebe ich hiermit einen 80er. Vielleicht mehr, wenn ich wieder auf die Erde zurückfinde. Damit spiele ich auf die fehlende Erdnote an. Ein Quentchen Moos oder etwas mehr Vetiver wäre perfekt. Denn auch nach den süßesten Träumen und den schönsten Phantasiereisen holt uns die Zeit "Irgendwie" wieder ein. Wir erinnern uns meist nur, dass wir vor Kurzem noch "Irgendwo" waren. Wir wachen auf und müssen "Irgendwann" wieder aufstehen. Dann wäre es sehr ratsam, festen Boden unter den Füßen zu haben. Doch dieser feste Boden, die Erde fehlt in dieser Komposition. Aber das ist nur ein kleiner Wermutstropfen. Nobody is perfect.
In diesem Sinne: "TRÄUMT WAS SCHÖNES"