Träume,
braunhaariges Mädchen,
träume tief.
Und wenn du erwachst,
gib dein Geheimnis nicht preis.
„Valerie, gib acht“, flüsterte die Nacht über ihren schlaftrunkenen Atem, doch der Dieb war schon entschwunden wie der Schein der mandarinengoldenen Abendsonne. Nun fiel grünliches Licht durch die gläsernen Dachfenster und die Erinnerung an die Anwesenheit des Fremden schwebet im Raum, ein leicht bittere Hauch nur von Neroli. Fröstelnd legte sich Valerie ihr feines Tuch mit den aufgestickten Jasminsternchen um die schlafwarmen Schultern. Ihre Ruhe war hin genau wie die weißgoldenen Ohrringe mit den Narzissenblüten und sie folgte den Spuren des Diebes im Mondschein.
Wohin nur war der Orangenbaum im Garten verschwunden, dessen Äste sich gleichermaßen unter der Last reifer Früchte und süßer Blüten bog, und was versetzte die Hühner in dem kleinen hölzernen Verschlag am Ende des Hofes in solchen Aufruhr?
Valeries Welt hatte sich ein kleines Stück aus ihrer Verankerung gelöst. Spann sie ein in einen ambrettezarten Traumschleier und noch während sie die Augen über der flackernden Petroleumlampe in ihren Händen schloss, um zu sehen, ob die Nachtfalter mit den blütenweißen Flügeln auch im Blinzeln noch taumelnd um die Flamme tanzten, glitzerten die Geschmeide wieder an ihren Ohrläppchen, als könne sie Mondlicht aus den Blütenkelchen trinken, bis der goldene Tag erwachte. Denn nun fielen die Farben so hell und freundlich auf eine Welt aus verblüffenden Bildern, ein wenig übernatürlich vom Gegenlicht ausgewaschen, kaum merklich überzeichnet.
So kam es, dass das granatrote Honigfunkeln auf den betörend weißen Narzissen in den Beeten, aber auch die tonkasüße Fratze des Iltis sie schlafwandelnd staunen und nicht erschrecken ließ, am Beginn dieser Woche voller Wunder.
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Dichternarzissen sind Blumen, die nur bis zu einem gewissen Grad blumig duften. Mit etwas Abstand riechen die Blüten zwar genau so frühlingsrein und aprilregenzart, wie man es beim Anblick der seidigen weißen Blütenblätter erwartet, doch wenn man sich näher mit der Nase heranwagt, offenbaren sie schnell eine unerwartete dunkle Tiefe von erstaunlicher Komplexität, die im selten in Parfum verwendeten Narzisse Absolue natürlich noch konzentrierter und deutlicher auftritt. Da sind Ledernoten, Facetten von hellem Tabak und heuartige Akzente von einer betörenden feuchten Wärme, deren weltlichen Aspekt die Indole, ähnlich wie bei Tuberose, noch zusätzlich unterstützen. So entsteht ein Eindruck von warmer Haut, ohne dass man seine Fantasie überanstrengen müsste. Da ist ein Pulsschlag, ein paar zerwühlte Laken, ein sanftes Atmen – und genau diese Intimität der Dichternarzisse ist es, die Annette Neuffer hier ganz leichtfüßig mit anderen Ingredienzien verbindet und so eine surreal-kaleidoskopische Abfolge von sich immer neu zusammenfügenden Traumbildern erschafft.
Zu Beginn tauchen Galbanum und Neroli die Welt in Grün, um langsam von einer reifen Mandarine versüßt zu werden. Schon hier blitzen die Narzissen immer wieder auf, werden mal von Orangenblüten, mal von Jasmin begleitet, ohne dass das vibrierende Grün aus der Kopfnote ganz verschwindet. Was genau ich in dieser Phase des Duftes wahrnehme, wann und in welcher Intensität, variiert sehr stark und lässt mich jedes Mal aufs Neue Staunen, wenn ich den Duft trage. Dabei ist alles hell und zart und leicht, ein Reigen zwischen Schlaf und Wachzustand von fast schon schmerzhafter Schönheit, der es schier unmöglich macht, das eine vom anderen zu unterscheiden. Aber vielleicht spielt der Unterschied auch gar keine so große Rolle.
Dann kommt der Punkt, an dem ich fasziniert beobachte, wie die Narzisse die anderen Blüten überstrahlt – an manchen Tagen stärker als an anderen von Tonkabohne unterstützt – und all die wundervollen Facetten, die ich eingangs beschrieben habe, glänzen lässt. Ein Duft wie ein poetisches Märchen, in dem potenziell verstörende Elemente (in meinem Fall die Tonkabohne) eher verblüffen und faszinieren als erschrecken, und der mich unwillkürlich an „Valerie – Eine Woche voller Wunder“ denken lässt, ein poetisch-surreales Schauermärchen, vom tschechischen Regisseur Jaromil Jireš feinsinnig in eine betörende Bilderflut übersetzt.
Zur Basis hin wird der Duft immer wärmer, ein winziger Tropfen Honig unterstützt die süßen Facetten, hintergründig schlängeln sich feinste Rauchfäden wie von vanilligen Sandelholzräucherstäbchen durch die Blüten und ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Patchouli erdet. Diese Entwicklung sorgt dafür, dass ich Narcissus Poeticus, das ohne Weiteres ganzjährig, täglich, zu jedem Anlass und überhaupt immer wunderbar tragbar ist, tatsächlich im Winter bevorzuge, wenn es dunkel ist und ich mich gleichzeitig nach grünen Trieben in den Blumenbeeten, nach kühlen Frühlingssonnenstrahlen, aber eben auch nach ein wenig süßer Wärme sehne.
Liebe Indolic, ich werde jeden Tropfen genießen und danke dir von ganzem Herzen.