I want the world to stop
Es ist ja manchmal seltsam, wie Musikstücke einem plötzlich in den Kopf kommen. Eins
meiner liebsten Musikstücke ist "I want the world to stop"
von Belle&Sebastian. Verschwommen wie ein impressionistisches
Gedicht erzählt es von einem kalten Winterspaziergang im Sonnenuntergang eines Hafens in einer grauen, nebeligen Arbeiterstadt. Das Lied
transportiert für mich atmosphärisch soviel Wehmut, dass ich
jedesmal fast Tränen schlucken muss, wenn ich es höre. Melancholie ist ja nichts Schlechtes. Nostalgie ist ein Kind der Melancholie und es
lässt die Hand seiner Mutter niemals los. Und jetzt ist da das Lied.
In meinen vagen Zwanzigern, als die Schlaghosen der Neunziger endgültig von den Skinny Jeans abgelöst wurden, fühlte ich mich plötzlich modisch verloren. Da habe ich verstanden, warum so viele ältere Frauen delfinfarbene Mäntel und karierte Röcke tragen. Oder ältere Herren seidene, weinrote Sportblousons und khakifarbene Bundfaltenhosen mit messerscharfen Bügelfalten. Die Intelligenz des Menschen bleibt nicht fluide und der modische Geschmack bleibt es auch nicht. Zwischen Zwanzig und Dreißig, in seltenen Fällen bis Fünfzig ist Schluss. Dann ist eine Art Stammintelligenz ausgeprägt, aus deren Schatzkiste der Mensch notdürftig schöpfen darf und um die herum er abstrahieren und Probleme lösen muss. So wie die kristalline Intelligenz alle verbalen, numerischen und mechanischen Fähigkeiten quasi einfriert, so gefriert auch der modische Geschmack eines Menschen vielleicht irgendwann. Dann verfestigt sich das ästhetische Empfinden, wird kristallin. In dem Zusammenhang kann man vielleicht auch das etwas despektierliche Wort "Omaduft" bewerten, das hier immer mal wieder auftaucht. So ist das eben, wir sind alle Kinder unserer Zeit, das darf man nicht vergessen.
Meine Oma ist nun Ende Achtzig. Anfang des Jahres, im Februar hatte sie Geburtstag. Gefeiert wurde bei Schwarzwälder Kirsch und Filterkaffee in der senfgelben, polyestersamtenen Couchgarnitur vor der Mahagonischrankwand. So richtig fit ist meine Oma in Anbetracht ihrer Alters nicht mehr. Zerbrechlich schob sie sich mit der Kaffeekanne an den in den Sofas und Sesseln verschluckten Jeansbeinen der Verwandtschaft hindurch, um auszuschenken, Kuchen auf Blümchentellern zu verteilen und setzte sich danach selbst, gleitend langsam, zu erschöpft um sich eigentlich fallen zu lassen, in ihren eigenen Sessel, den Rock unter ihr noch sorgfältig glatt streichend. Dies war die letzte aktive Handlung ihres Nachmittags gewesen, wenn man das vorgetäuschte Zuhören -nickend, um die Schwerhörigkeit etwas schamhaft zu überspielen- nicht dazu rechnet. Mit milchigen Augen suchte sie hin und wieder die Kaffeetafel ab. Haben alle alles?
Ich betrachtete meine Oma auf einmal mit einem anderen Blick. Sie war immer diejenige gewesen, die mir aus meiner etwas spröden und bildungspragmatischen Arbeiterklassenfamilie am nächsten gestanden hatte. Sie interessierte sich für Kunst und für Literatur, für Politik, Mode und Musik, sammelte bis heute Antiquitäten, Schmuck und Miniaturen. Für mich war meine Oma in meiner Kindheit immer die Hüterin alles Schönen und Ästhetischen gewesen und ganz gegensätzlich zu meinem Elternhaus. Sie war immer mein eigentliches Zuhause, mein eigentlicher Kontakt, meine eigentliche Anbindung, meine intellektuelle Heimat gewesen. In den Sommerferien war ich manchmal dort, wechselweise mit meiner Schwester und meine Oma lehrte mich Zeichnen, las mir vor und zeigte mir, wie man Puppenkleidung näht.
Für meine Oma hatte all das Schöne aber ganz anders angefangen. Sie war im Ruhrgebiet aufgewachsen. Zu Zeiten der Flächenbombardements war sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen. Ich glaube, für uns ist es heute nicht so leicht vorstellbar, was "schwere Zeiten" tatsächlich bedeuten. Meine Oma hatte nicht wirklich Kind sein dürfen. Die Familie war von ihrem Vater für eine andere Frau verlassen worden, mit der er bald wieder Kinder bekam. Das war als meine Oma sechs Jahre und ihre jüngere Schwester zwei Jahre alt gewesen waren. Die Mutter hatte sich nun mit der "Stütze" und Näharbeiten durchschlagen müssen, wurde Zeit ihres Lebens von allen Nachbarn und Verwandten liebevoll nur "Mariechen" genannt, ganz, als sei eigentlich sie noch ein Kind. Die Mutter meiner Oma hatte immer wieder Schwächezustände, litt wohl an Überlastungsdepressionen, als alleinerziehende, geschiedene Frau und nun Ernährerin der Familie in diesen schlimmen Jahren.
So würde man das heute sagen. Früher sagte man "Da müssen wir jetzt durch". Und zwar „alle Mann“. So musste meine Oma schon als Grundschülerin helfen Hosen zu kürzen, Reißverschlüsse zu reparieren, Röcke zu engen oder zu weiten oder die kleine Schwester hüten. Zwar wohnte der Vater noch in der Nachbarschaft, unterstützte die verlassene Familie aber nicht und manchmal, wenn es besonders knapp war, wurden die beiden Mädchen geschickt, um bei ihm nach Geld zu fragen. Selten gab es welches, meist wurden die Kinder verscheucht. Das karge Einkommen der kleinen Familie reichte hinten und vorn nicht und alles was da war, wurde gestreckt, verlängert, zusammen gehalten. Selbst das Wort Verzicht war Luxus, man riss sich eben zusammen und kam zurecht.
So wurde folgerichtig mit diesen familiären Erfahrungen und nach den Kriegserfahrungen eine rechtschaffene, fleißige, übertrieben sparsame und auch öfter geizige Frau, die sich und anderen keine Gefühle gönnte oder erlaubte, in jeder Situation auf den Verstand und die Vernunft beharrte, immer und unter allen Umständen die Contenance bewahrte. Sie lernte als junges Mädchen Schneiderin und Putzmacherin, das kam ihrer Rechtschaffenheit, ihrer Sorgfalt und ihrem ästhetischen Sinn entgegen. Heute sind das aussterbende Handwerke. Meine Oma war immer eine Ausnahmeschönheit gewesen. Zierlich, mit dunkelbraunen Haaren, braunen Augen und Porzellanhaut. Immer elegant gekleidet wie eine Jackie Kennedy.
Heute sind ihre Haare seidig weiß, immer sorgfältig frisiert, zusammengehalten von schönen Spangen. Zu ihrem Geburtstag heute trug sie ein fliederfarbenes Strickkostüm, ein Twinset, dazu eine zweireihige Perlenkette, passende Perlenohrringe und zwei Ringe mit Amethysten und winzigen Diamanten. Meine Oma ist von Natur aus eine Dame, trotz ihrer einfachen Herkunft.
Als sie aufgestanden war, um den Kaffee auszuschenken, bemerkte ich ihre schwarze, gepunktete Seidenstrumpfhose. Ein bisschen kokett für Oma. Ich dachte nach. Sie war eigentlich so gekleidet, wie in ihren jungen erwachsenen Jahren, so, als habe sie vergessen, dass sie alt sei, so wie auch ich vergessen hatte, dass sie alt wird. Oder wie alt sie wirklich schon ist.
Parfums hatte meine Oma auch. Sie kaufte sie dort, wo sie alles kaufte. Auf dem Flohmarkt. Flakons für zwei, drei Mark, Schnäppchen, Fundstücke. Das Wort Signaturduft kennt meine Oma sicher nicht, genauso wenig wie das Wort "Reformulierung". Aus ihrer Sammlung trug sie ein Parfum immer zu allen besonderen Gelegenheiten. "Maja" von Myrurgia. Die Vintageversion von 1921 am liebsten, wenn sie diese bekommen konnte. Der Duft wird nicht mehr produziert bzw. soll die heutige, reformulierte Version mit der von damals nichts mehr zu tun haben.
Ich kenne meine Oma hauptsächlich in diesem Duft, der dezent über jeder Familienfeier meiner ansonsten duftlosen Familie schwebte. Würzig-blumig und opulent, ein Bouquet aus Nelken, Geranien und Rosen, ordentlich gepfeffert mit Muskat und Lavendel auf einer feinen Patchoulibasis. Der Duft passt hervorragend in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, mit ihrer Orientliebe und ihrem Flitter. Hier auf Parfumo habe ich erfahren, dass das Parfum zunächst eingestellt wurde, und dann 1941 wieder aufgelegt wurde, wonach es ein Klassiker wurde. Zwar in den Zwanzigern entstanden, scheint mir die Opulenz des Duftes so gut in die Nachkriegszeit zu passen. Wie eine olfaktorische Kompensation des Verzichts, die gleichzeitig das Vergangene aufarbeitet. (Vielleicht genauso schlüssig, wie heute, in Zeiten des Überflusses, die immer minimalistischer werdenden Pyramiden, bis manchmal hin zur Reduktion auf einen einzigen Dufteindruck.)
Zum Geburtstag hatte ich meiner Oma einen Vintageflakon von Maja ersteigert, er kam an, im gewohnten roten Karton. Ich nahm einen Probesprüher und schnupperte enttäuscht. Der Duft war leider gekippt. Zum Ausgleich schenkte ich der alten Dame ein Päckchen mit drei runden Maya-Seifen, die so schön in schwarzes Papier eingewickelt sind.
"Das ist ja viel zu viel für mich!" sagt meine Oma bescheiden, und drückt mir mit gichtigen Fingern eine der Seifen in die Hand. Ich kann nicht anders, als die Hand festhalten, die ich habe Aquarelle malen und Knöpfe annähen sehen, die Lederschühchen für Porzellanpuppen genäht haben, Zeitungsseiten umgeblättert haben, während ich auf dem Küchenstuhl mit den Beinen baumelte, die Gartenblumen anrichteten wie herrschaftliches Bouquets, die Tassen mit englischem Tee hielten und die meine Wange streichelten, duftend nach Maja.
In meinem Kopf ist dieses Lied, heute. I want the world to stop.
Ich möchte ergänzen, dass ich diesen Blog schon 2019 geschrieben und ihn jetzt etwas überarbeitet habe. Wegen ihres Umzugs ins Altenheim gab es schon im letzten Jahr eine Wohnungsauflösung. Da lagen, zwischen ihren Strickjacken, Blusen und T-Shirts die zwei Seifenstücke „Maja“. Die liegen jetzt bei mir im Schrank, in ihrem schwarzen Papier. Den Originalduft werde ich vielleicht nicht mehr riechen.
Meine Oma ist heute Nacht gestorben.