(Den ersten Teil findet ihr unter Miss Dior Eau de Toilette Original)
Die kleine Parfumerie im Hauptstädtchen der Insel fiel ihr ein.
Da müsste ihr doch jemand etwas Genaueres sagen können.
Noch am gleichen Tag machte sie sich auf den Weg.
Zwei vorsichtige Sprüherchen auf den Hals hatte sie sich
erlaubt, genug, um ihr kleines Auto mit dem zwischen
herbgrün, puderweich und zartholzig-würzig changierenden
Duft zu erfüllen. Nicht länger als eine halbe Stunde dauerte
die Fahrt - und sie genoss jede Sekunde davon.
In der Hauptstraße mit den Geschäften konnte sie nicht
parken. Auf dem Weg vom öffentlichen Parkplatz zur
kleinen Fußgängerzone, wo die Parfumerie lag, hielt sie den
kleinen Flakon fest in ihrer rechten Hand, die sie obendrein
noch in die Hosentasche gesteckt hatte.
Dann kam der nächste Schrecken.
Das Schaufenster der Parfumerie war mit Zeitungspapier
zugeklebt, auf einem Schild in der Tür las sie:
„Wegen Renovierung vorübergehend geschlossen“
Als ob sich alles gegen sie verschworen hätte.
Sie atmete tief durch.
Sie brauchte jetzt erst mal einen Kaffee.
Nur ein paar Häuser weiter entdeckte sie einen Laden,
den sie noch nicht kannte, es schien eine Art Mittelding
aus Buchgeschäft und Café zu sein.
Na wenigstens etwas.
Und schon saß sie an einem runden Tischchen nah am
Fenster, in dem verschiedenen Jane Austen-Ausgaben mit
Strand-Accessoires und etwas Sand dekoriert waren.
Auf ihren Cappucino musste sie nicht lange warten,
ein junger Mann brachte ihn ihr, auf dem Untertellerchen
lagen zwei muschelförmige Kekse.
„Falls sie auch noch Bücherwünsche haben – die Chefin ist
kurz im Lager, kommt aber gleich, ich bin hier nur für‘n
Kaffee zuständig“, sagte er und wischte einmal mit dem
Handtuch über den blitzblanken Tisch, bevor er sich
wieder hinter die kleine Theke begab.
Der Capuccino war gut, sehr gut sogar, dafür, dass dies nur
ein Buchlädchen war.
Sie holte den Fundflakon aus der Hosentasche hervor und
gab sich noch einen Sparsprüher auf den Hals.
Die weich-grün schimmernde Aura, in der sie jetzt sogar
einen Hauch von etwas wie Leder vernahm, paßte gut
zum bitter-zartem Aroma des Kaffees, passte zum Einfach-
erst-mal-Entspannen und sogar zu den Büchern im Fenster,
die sie versonnen betrachtete.
Aus dem in leichter Dämmerung liegenden hinteren Teil
des Ladens hörte sie jetzt Schritte, die auf den Holzdielen
irgendwie dynamisch klangen. Das musste die Chefin sein.
Dann passierte einiges auf einmal.
Sie sah eine vielleicht vierzigjährige Frau in Jeans und dunkel-
blauer Bluse, die ein paar Meter neben ihrem Tisch
Bücher in ein Regal schob. Sie hatte ziemlich kurzes,
blondes Haar, das so verwuschelt aussah, wie es normaler-
weise nur eher teure Friseure hinbekommen.
Und zugleich sah sie ein zweites Bild, vor ihrem inneren
Auge. Vor vielen Jahren auf dem Helene-Lange-
Gymnasium in Hamburg. Ihre beste Freundin Carola,
ja so hieß sie, stand am Schrank und zog Atlanten hervor.
„Na, wird das heute noch was?“ sagte Frau Stockman,
die Erdkunde-Lehrerin.
Frau Stockman und Carola – beide hatte sie, das stellte sie
zu ihrer Verwunderung fest, beinahe völlig vergessen.
Dabei waren Carola und sie einige Zeit unzertrennlich
gewesen, die Zeit als die Scheidung ihrer Eltern über die
Bühne ging und Carola zu einer Art Komplizin geworden war,
denn auch ihre Eltern waren geschieden.
Die Besitzerin des Ladens, die sie so an Carola erinnert
hatte, verschwand wieder nach hinten.
Die Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen, obwohl
Carola insgesamt doch rundlicher und etwas kleiner war,
wenn sie sich nicht täuschte. Außerdem war sie nach der
Zehntenins Ausland gezogen, denn ihre Mutter hatte eine
Stelle als Dolmetscherin in England angetreten.
Oder war’s in Schweden? Warum hatte sich keiner von beiden
mehr beim anderen gemeldet? Warum verloren sich zwei,
die sich so nah gestanden hatten, völlig aus den Augen?
Der weiche, jetzt eher harzig-pudrig wirkende Duft passte
zur zeitlichen Untiefe ihres Erinnerungsausflugs.
Sie musste lächeln. Schön dass ihr Carola wieder eingefallen
war. Und zugleich traurig. Vielleicht könnte sie irgendwas
über sie rausfinden und sich mal bei ihr melden.
Jetzt kam die Blonde wieder mit ein paar Büchern nach
vorn.
„Wenn ich irgendwas für Sie tun kann – einfach Bescheid
sagen…“
„Ja, danke, im Moment eigentlich nicht. Aber schöner
Laden ist das hier, kannte ich noch gar nicht…“
Sie kam zu ihr an den Tisch.
„Ich hab‘ ja erst vorige Woche aufgemacht. Ich kenn‘ hier
praktisch auch noch niemanden.“
„Ich wohne 20 Kilometer weiter, ziemlich nah am Meer.“
Sie wusste auch nicht genau, warum sie das erzählte.
„Und was machen Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ach, nichts Aufregendes, ich schreibe, für Frauen-
journale, Zeitgeist und Mode und ab und an mal etwas
Politik, aber vorsichtig dosiert quasi…“
„Toll! Ich mein‘, wenn man von so was leben kann. Und
dann nah am Meer, das klingt ja fast wie bei Pilcher…“
„Na ja. So rosig ist das alles auch nicht. Ich hab‘ einen
zehnjährigen Sohn, der hier nicht so zurechtkommt und
als alleinerziehende Mutter kommen ständig diese Zweifel.
Mach ich das richtig oder denk‘ ich zu sehr an mich?“
Sie wunderte sich, wie offen sie über sich selbst sprach.
„Ach so, verstehe. Ja, das kann ich mir vorstellen, das ist
bestimmt nicht einfach…“
Sie setzte sich jetzt zu ihr an den Tisch.
Diese Stimme. Ganz unähnlich zu der von Carola schien
sie nicht zu sein, allerdings doch etwas zu tief.
„Ja, leicht ist es wirklich nicht. Ich denke oft, ich geb‘
dem Jungen einfach nicht genug…“
„Ich glaub‘, das denken die meisten Alleinerziehenden.“
„Sagen sie mal, darf ich Sie mal was Schräges fragen -
heißen sie vielleicht – Carola?“
„Na das nenne ich wirklich schräg! Und so schön direkt.
Aber ich finde, diese Direktheit gut. Passt zu Ihnen.
Genau wie ihr Parfum, Miss Dior und zwar in der Original-
version.“
„Das gibt’s ja nicht… sind Sie sicher?
Sie war vollkommen baff.
„Absolut sicher, ich riech’s doch.“
„Wissen sie ich bin extra deshalb hierher gefahren… ist ‘ne
längere Geschichte…“
„Lassen sie mich kurz was einwerfen, bevor Sie’s mir in Ruhe
erzählen. Ich glaube, sie machen sich um viele Dinge einfach
zu viel Gedanken, die dann schnell zu Sorgen mutieren, kann
das sein?“
„Ich weiß nicht… das mit Jan ist ganz real. Am Ende stimmt es
doch… ein Kind und grad eine Junge braucht halt auch einen
Vater…“
„Oder zwei Mütter…“ Sie legte ihre Hand sanft auf die fremde
Hand, die neben der Tasse auf dem Tisch lag.
Der weiche, abgerundete Duft stieg ihnen wieder in die Nase,
wohlwollend, beruhigend und selbstbewusst.
Ihre Hand zog sie nicht zurück.
Nachspiel
Ginge man ein paar Wochen später den Marschweg hinab,
würde man vielleicht vor dem Haus mit dem kleinen
blauen Balkon stehen bleiben und die vielen Pflanzen
und Blumen im Garten bewundern.
Was es da alles gab – Strandgrasnelken, Küstenengelwurz,
rote Quellbinsen, Dünentrespen, Salzhasenohr, Meersenf,
zartviolette Strandwinden, Tausendgüldenkraut und
dazwischen üppig wachsender Strandhafer, rau und doch
anschmiegsam, zäh und wunderbar zart zugleich.
Das einzige, was es nicht zu sehen gab, war ein Schild
mit der Aufschrift „Zu Verkaufen“.