„Der Duft der Imperien – Chanel No 5 und Rotes Moskau“ von Karl Schlögel
Es fördert die Kreativität bei der Erschließung von Geschenkideen bisweilen enorm, wenn andere darum wissen, dass man eine Leidenschaft für Düfte hegt. So kam es, dass mir im Juli zu meinem diesjährigen Geburtstag von lieben Freunden das (taufrische) Buch verehrt wurde, dessen Titel und Autor in der Überschrift dieses Blogs verzeichnet sind.
Der mir bis dahin nicht bekannte Autor ist ein bunter Vogel; er gehörte in den späten 60-ern und den 70-ern wie nicht wenige damalige westdeutsche Jungintellektuelle zu diversen „K-Gruppen“. Diese maoistischen, trotzkistischen und anderweitig obskuren kommunistischen Sekten haben nichts mit meiner Lebenswelt zu tun, ich muss aber einräumen, dass die (zeitweise, denn irgendwann sprang jeder dann ab) Prägung durch solche verschrobenen Splittergruppen, die radikal gegen alles waren, gegen „den Kapitalismus“ genauso leidenschaftlich wie gegen Moskau und Ost-Berlin, bei vielen eine bemerkenswerte Ungebundenheit und Volatilität im Denken und Wahrnehmen hervorgebracht hat: Im ungünstigsten Fall sind die Betroffenen später dann Verschwörungstheoretiker oder Anhänger anderer (nichtkommunistischer) politischer oder religiöser Sekten geworden, im günstigsten zu entspannten, undogmatischen Menschen mit großer Neugier für unentdeckte Themen und der Fähigkeit, Dinge aus faszinierenden neuen Perspektiven zu betrachten.
Schlögel, der trotz seiner Abneigung gegen den „Realsozialismus“ auch in Moskau und Leningrad studierte, scheint zur zweiten Kategorie zu gehören. Er ist Soziologe, Historiker und Slawist, zuletzt (vor seiner Emeritierung) war er Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). In seinem letzten, 2015 erschienenen, Buch „Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen“, blickt er (Rezensionen zufolge, ich selbst habe das Buch nicht gelesen) mit Empathie auf die unabhängige Ukraine und versucht sie dem deutschen Leser nahe zu bringen, dabei bedauernd, dass in der Vergangenheit die Bemühungen um deutsch-russische Freundschaft oft zu einer merkwürdigen Blindheit für die Eigenheiten und Belange der kleineren ostslawischen Völker geführt haben – für einen Russlandspezialisten eine ganz bemerkenswert offene Haltung.
Mit seinem neuen Buch, 2020 bei Hanser erschienen, bewegt der Autor sich auf ein, wie er selbst sagt, völlig unbekanntes Terrain, nämlich das der Düfte. Seine Beziehungen zu Parfüms beschränkten sich nach seinen Worten bisher auf das Durchqueren von Duty-Free-Shops auf Flughäfen. Natürlich verbindet er das Sujet mit der ihm vertrauten Welt: Geschichte, Politik, Soziologie, Osteuropa, Russland.
Die Frage, die am Anfang des Buches stand, war, was das nur für ein schwer-süßer Duft gewesen sei, den der Autor, wenn er sich an seine Aufenthalte im Ostblock erinnerte, mit jedem förmlichen Ereignis, sei es nun Opernabend, Hochzeitsfeier oder Verleihung von Abgangsdiplomen an Universitätsabsolventen, verband. Die Antwort war leicht gefunden, es war „Krasnaja Moskwa“ (schönes Moskau, oder, je nach Übersetzung, rotes Moskau), das über Jahrzehnte populärste und formellste Parfüm der UdSSR.
Damit war aber die Forscher-Neugier des Autors nicht befriedigt. Er begann tiefer zu graben, nach den Ursprüngen dieses Parfüms, nach den Parfümeuren, die dahinter standen, nach seiner Verwandtschaft mit westlichen Düften, nach der Enteignung der (hochentwickelten) Parfümindustrie des Zarenreiches in der Russischen Revolution und den Bedingungen, unter denen Parfümiere in der Planwirtschaft funktionierte.
Vor diesem Hintergrund spannt Schlögel, in der Auswahl der Einzelthemen wohl auch determiniert durch die Funde, die er ihn Archiven machte (oder eben auch nicht) ein faszinierendes, buntes Kaleidoskop von historischen und soziologischen Ost-West-Duftthemen des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ (im Wesentlichen vom Vorabend des ersten Weltkriegs bis zum Zerfall der Sowjetunion, aber mit Blicken zurück und nach vorn über diesen Rahmen hinaus) auf. Er beschränkt sich dabei keineswegs auf das Parfüm-Olfaktorische im engeren Sinn; der Strom der Erzählung (und der sehr spannenden Bebilderung) berührt z.B. auch die Thematik der „Geschichte in Duftbildern“ (der Geruch des Arbeiteralltags, der Gestank der Schlachtfelder und der Vernichtungslager, die Alltagsdüfte der Bourgeoisie und des Adels), die Wechselbeziehungen zwischen Mode und Düften, auch im Rahmen anderer Kulturerscheinungen wie Tanz und Architektur, und natürlich immer wieder die Politik. Wir erfahren, dass es am Ende der Sowjetunion dort zwanzig staatliche Pafumeure gab, die aber namentlich nicht in Erscheinung treten durften, weil sie nicht als Künstler galten und daher hinter dem Kollektiv der Werktätigen zu verschwinden hatten, und dass Kasimir Malewitsch, der weltberühmte Modernist, auch der Schöpfer eines Parfümflakons (für das Cologne Sewerny, d.h. Nord) war, was aber erst 2017 bekannt wurde. Wir lesen über die längst vergessene Kosmetiklinie der (auch mit den Nazis verbandelten) Schauspielerin Olga Tschechowa und über den Parfümmarkt im Russland der frühen Neunziger mit seinem Nebeneinander der Flagshipsstores der großen westlichen Marken in Moskau und Petersburg und den über improvisierte Schwarzhandelsrouten einströmenden Massen von Markenfälschungen meist asiatischer Herkunft; die einheimische sowjetische Produktion war zusammengebrochen, denn ein nachgemachtes westliches Parfüm wurde einem echten heimischen vorgezogen.
Besonders anschaulich schildert Schlögel die stark (aber nicht ausschließlich) durch Firmen französischer Herkunft geprägte Parfümlandschaft des vorrevolutionären Russland, er stellt hier einige Düfte, Flakons, Werbekampagnen, aber auch z.B. die Fabriken vor (z.B. Rallet & Co, Brokar, Köhler), wirft Schlaglichter auf die Lage der Parfümfabriken und ihrer Belegschaften im Bürgerkrieg und schildet ausführlich das Paris der 20-er und 30-er Jahre, das Paris Coco Chanels, in dem (auch festgemacht an den Weltausstellungen 1925 und 1937) ein letztes Mal eine europäische Metropole die unangefochtene Welthauptstadt der Mode, der Düfte und der Zivilisation allgemein war – nicht zuletzt auch durch den Zustrom Abertausender in verfeinerter Kultur aufgewachsener russischer Emigranten und Exilanten.
Am faszinierendsten sind für mich die „parallelen Leben“, die der Autor erzählt, ein spätestens seit Cornelius Nepos dankbares Genre: Kontrastiert wird zunächst die Geschichte der beiden „französisch-russischen“ Parfumeure Ernest Beaux und Auguste Michel, von denen der eine sich vor dem Bürgerkrieg nach Paris rettete und der andere (als Direktor eines staatlichen Parfümbetriebs) in Moskau blieb (und wohl im Strudel der Stalinschen Säuberungen 1937 unterging). Sodann wird auch sehr reizvoll das Leben von Gabrielle „Coco“ Chanel mit dem von Polina Schemtschuschina verglichen, der jüdischen Ehefrau des sowjetischen Außenministers Molotow, die von 1932 bis 1936 den staatlichen Duftmonopoltrust „TeShe“ leitete, bevor sie nach einem Schauprozess ins Arbeitslager geschickt wurde (und doch bis zu ihrem Tode 1970 gläubige Stalinistin blieb).
Wenn es an Schlögels Buch etwas zu kritisieren gibt, dann vielleicht einmal die allzu lockere Fügung der Themen; der rote Faden ist erkennbar, aber manchmal nur mit Müh und Not; bisweilen nimmt das Buch eher den Charakter einer Essay-Sammlung ein – aber das muss ja nicht stören. Etwas schwerer wiegt für mich, dass der Autor, wie ich meine, den Sprung in das für ihn zu Beginn fremde Thema der Düfte nicht gründlich genug gewagt hat. Gerade die rein parfümbezogenen Passagen bleiben oft etwas blass und kenntnisarm; man gewinnt, auch aufgrund von Schreibfehlern und ähnlichen Ungenauigkeiten, bisweilen den Eindruck, als habe der Autor auch bei Abschluss seines Werks nicht genau verstanden, was eine Kopf-, Herz- und Basisnote und was ein Fixator ist, welche Gesetzmäßigkeiten hinter Flankern und Reformulierungen stehen und was es eigentlich bedeutet, wenn man einen Duft als „floralen Chypre“ bezeichnet. Hier hätte es sicher geholfen, wenn er sich mal gründlich auf Parfumo umgesehen und vielleicht mit der Duftenzyklopädie Yatagan und der olfaktorischen Ostexpertin Gold unterhalten hätte. Möglicherweise hätte er dann auch seine kühne, sich im Untertitel des Buches spiegelnde, These, Krasnaja Moskwa und Chanel No 5 gingen beide auf denselben Ur-Duft zurück, nämlich auf „Das Lieblingsbouquet der Zarin Katharina II“ von Brokar aus dem Jahre 1913, nicht aufrechterhalten. Diese These scheint mir nämlich nach Lektüre des Buches nicht wirklich überzeugend belegt.
Dennoch ist „Der Duft der Imperien“ für jeden Parfumo, der sich für die Wechselbeziehungen von Düften, Geschichte und Kultur erwärmen kann, gewiss eine faszinierende, lehrreiche und hochgradig unterhaltsame Lektüre.