03.10.2024 - 11:31 Uhr

Marieposa
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Marieposa
Top Rezension
42
Weil kein Traum jemals nur ein Traum war
„Sie schwiegen beide, lagen mit offenen Augen, fühlten gegenseitig ihre Nähe, ihre Ferne.“
(Arthur Schnitzler, Traumnovelle)
Ich glaube, es war die Sekunde, in der Aldehydblitze die Weihrauchwolke glitzern ließen, als mein Lachen wie platzende Champagnerbläschen in einem Kelch aufstieg und ich die Hände in den Regen aus cremeweiß schimmernden Perlen hinaufstreckte, sie erhaschen wollte, bevor sie klackernd auf den steinernen Boden der Kathedrale prasselten. Ich wollte schweben oder wenigstens laufen, Fuß um Fuß auf die unsichtbare Treppe in der Luft setzen, doch die Schwerelosigkeit versagte mir den Dienst. Und so lauschte ich mit konzentrierter Spannung, wie jeder meiner Schritte in der Weite des Raumes widerhallte, gefangen im Schweigen der Kuppel des Doms und im Flackern unzähliger weißer Kerzen. Ein Tropfen No 5, der in meinem Dekolleté zur Mitternachtsmesse erblühte wie die schwarzen Lilien in den Vasen. Eine Drehung nur, ein Walzer in den unsichtbaren Armen eines Traums, mein Herzschlag unter Ylangseide, ein Wirbeln ohne Straucheln und schließlich doch das ersehnte Schweben, bis ich die erhitze Haut an den kühlen Mauern ruhen ließ, weil kein Traum jemals nur ein Traum war.
https://www.youtube.com/watch?v=phBThlPTBEg
**
Die Legende, oder besser gesagt Michael Edwards in seinem Buch „Perfume Legends“, besagt, dass Chanel No 22 ursprünglich nichts anderes war als eine der vorgeschlagenen Varianten jenes Duftes, der 1921 Chanel No 5 werden sollte. Coco Chanel entschied sich zwar für die heute so bekannte Ikone des Hauses, fand an dieser Version jedoch so viel Gefallen, dass die aldehydig-florale Weihrauchschönheit von No 22 nur ein Jahr später das Licht der Welt erblickte. Und tatsächlich muss man nicht lange warten, um zu erkennen, dass No 5 und No 22 Geschwister sind – und wenn man einen Blick auf vorangegangene Beschreibungen wirft, scheint sich die Welt in Menschen aufzuteilen, die den Weihrauch in No 22 wahrnehmen, und Menschen, die ihn nicht wahrnehmen.
Ich gehöre zu denen, die den Weihrauch im Duft riechen. O ja! Und zwar schon von Anfang an und nicht erst in der Basis, wie es die Pyramide will. Zunächst erscheint mit No 22 schwerer zu sein als No 5, die wachsartigen Aldehyde noch höher dosiert und der Weihrauch von Blumenseife durchzogen. Wenn sich diese schwere Wolke lichtet, beginnt der Duft perlmuttfarben zu leuchten und zu schimmern. Tuberose nehme ich nicht wahr, dafür aber cremigen Ylang und indolischen Jasmin im Chanel-typischen Dreiklang mit Rose und Irispuderstaub. Warme und kalte Noten nähern sich an, nur um wieder auseinanderzudriften und ich stelle mir unwillkürlich eine Frau vor, die No 5 zur Osternacht oder zur Christmette trägt.
Im Verlauf wird No 22 dann immer sanfter, wärmer und weicher, legt die strenge Kühle ab, die bei No 5 bis zum Ende erhalten bleibt. Außerdem tritt eine stärker prononcierte Iris in den Vordergrund, die mit einer Spur Vanille gesüßt ist. In der Basis meine ich dann neben harzigem Weihrauch und kerzenrauchartigem Vetiver auch noch Myrrhe, Eichenmoos und Spuren von hellen Hölzern aufzuschnappen.
Dabei bleibt das Extrait über den ganzen Verlauf hautnah, aber wahrnehmbar, webt mit zarter Wärme Traumfäden, sodass die zärtliche Intimität dieser Duftumarmung nur jenen zuteilwird, die zum Näherkommen eingeladen sind.
„Die Seele ist ein weites Land“, soll der eingangs zitierte Arthur Schnitzler gesagt haben. Chanel No 22 ist es auch.
Liebe BeatriceA, ich danke dir dafür, dass ich diese perlmuttschimmernde Schönheit kennenlernen durfte.
(Arthur Schnitzler, Traumnovelle)
Ich glaube, es war die Sekunde, in der Aldehydblitze die Weihrauchwolke glitzern ließen, als mein Lachen wie platzende Champagnerbläschen in einem Kelch aufstieg und ich die Hände in den Regen aus cremeweiß schimmernden Perlen hinaufstreckte, sie erhaschen wollte, bevor sie klackernd auf den steinernen Boden der Kathedrale prasselten. Ich wollte schweben oder wenigstens laufen, Fuß um Fuß auf die unsichtbare Treppe in der Luft setzen, doch die Schwerelosigkeit versagte mir den Dienst. Und so lauschte ich mit konzentrierter Spannung, wie jeder meiner Schritte in der Weite des Raumes widerhallte, gefangen im Schweigen der Kuppel des Doms und im Flackern unzähliger weißer Kerzen. Ein Tropfen No 5, der in meinem Dekolleté zur Mitternachtsmesse erblühte wie die schwarzen Lilien in den Vasen. Eine Drehung nur, ein Walzer in den unsichtbaren Armen eines Traums, mein Herzschlag unter Ylangseide, ein Wirbeln ohne Straucheln und schließlich doch das ersehnte Schweben, bis ich die erhitze Haut an den kühlen Mauern ruhen ließ, weil kein Traum jemals nur ein Traum war.
https://www.youtube.com/watch?v=phBThlPTBEg
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Die Legende, oder besser gesagt Michael Edwards in seinem Buch „Perfume Legends“, besagt, dass Chanel No 22 ursprünglich nichts anderes war als eine der vorgeschlagenen Varianten jenes Duftes, der 1921 Chanel No 5 werden sollte. Coco Chanel entschied sich zwar für die heute so bekannte Ikone des Hauses, fand an dieser Version jedoch so viel Gefallen, dass die aldehydig-florale Weihrauchschönheit von No 22 nur ein Jahr später das Licht der Welt erblickte. Und tatsächlich muss man nicht lange warten, um zu erkennen, dass No 5 und No 22 Geschwister sind – und wenn man einen Blick auf vorangegangene Beschreibungen wirft, scheint sich die Welt in Menschen aufzuteilen, die den Weihrauch in No 22 wahrnehmen, und Menschen, die ihn nicht wahrnehmen.
Ich gehöre zu denen, die den Weihrauch im Duft riechen. O ja! Und zwar schon von Anfang an und nicht erst in der Basis, wie es die Pyramide will. Zunächst erscheint mit No 22 schwerer zu sein als No 5, die wachsartigen Aldehyde noch höher dosiert und der Weihrauch von Blumenseife durchzogen. Wenn sich diese schwere Wolke lichtet, beginnt der Duft perlmuttfarben zu leuchten und zu schimmern. Tuberose nehme ich nicht wahr, dafür aber cremigen Ylang und indolischen Jasmin im Chanel-typischen Dreiklang mit Rose und Irispuderstaub. Warme und kalte Noten nähern sich an, nur um wieder auseinanderzudriften und ich stelle mir unwillkürlich eine Frau vor, die No 5 zur Osternacht oder zur Christmette trägt.
Im Verlauf wird No 22 dann immer sanfter, wärmer und weicher, legt die strenge Kühle ab, die bei No 5 bis zum Ende erhalten bleibt. Außerdem tritt eine stärker prononcierte Iris in den Vordergrund, die mit einer Spur Vanille gesüßt ist. In der Basis meine ich dann neben harzigem Weihrauch und kerzenrauchartigem Vetiver auch noch Myrrhe, Eichenmoos und Spuren von hellen Hölzern aufzuschnappen.
Dabei bleibt das Extrait über den ganzen Verlauf hautnah, aber wahrnehmbar, webt mit zarter Wärme Traumfäden, sodass die zärtliche Intimität dieser Duftumarmung nur jenen zuteilwird, die zum Näherkommen eingeladen sind.
„Die Seele ist ein weites Land“, soll der eingangs zitierte Arthur Schnitzler gesagt haben. Chanel No 22 ist es auch.
Liebe BeatriceA, ich danke dir dafür, dass ich diese perlmuttschimmernde Schönheit kennenlernen durfte.
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