Zugegeben: An das Testen von Parfumproben gehe ich meist ein wenig unbedarft heran.
Nicht immer verfüge ich im Augenblick des olfaktorischen Kennenlernens schon über Hintergrundinformationen zum Dufthaus, zum Parfümeur, zu Geschwistern, Onkel, Tanten - oder, ganz schnöde, zum Preis.
Das ist meistens gut so, denn es erlaubt mir eine weitgehend unbeeinflußte Herangehensweise, ein unvoreingenommenes Testen, werde ich zurückgeworfen auf mein ganz eigenes Empfinden und die Bilder, die der jeweilige Duft in mir entstehen läßt.
So war es auch bei "Enlèvement au Sérail", der in einem unprätentiösen Plastiksprüher zu mir kam und den ich dem Namen wie dem Farbton zufolge spontan im Reich der Orientalen angesiedelt hätte.
Bilder von dunkelroten, goldbestickten Samtkissen kamen mir in den Sinn, von darauf drapierten leichtbekleideten, glutäugigen Schönheiten, deren Gesichter hinter dem Schleier kaum zu erahnen waren, von unerbittlichen Wächtern mit großen Krummsäbeln an der Seite und einem an Pracht und Herrlichkeit, Reichtum und Dekadenz kaum zu überbietenden goldenen Käfig.
Ein solcher Duft, so dachte ich, konnte nur aus Leidenschaft und Herzblut bestehen, überreich an narkotisierenden Blüten und aphrodisierenden Gewürzen, kraftvoll und unüberhörbar wie ein Gongschlag und so tief wie die Sehnsucht, die zwei Menschen bewegen muß, um eine Flucht, eine Entführung aus dem Serail zu planen.
Und so seufzte und schmachtete ich dem ersten Tropfen entgegen...
...und wurde freundlich begrüßt von einem so klassischen Blütenchypre, wie ich ihn schon sehr lange nicht mehr unter der Nase hatte und dessen Entstehungszeitpunkt ich etwa in den Backfischjahren meiner Großmutter angesiedelt hätte, jedoch ganz gewiß nicht im aktuellen Jahrhundert.
Zigtausend Kilometer vom Orient entfernt überreicht "Enlèvement au Sérail" mir einen unschuldigen Strauß heller Blüten, denen eine gerade eben erkennbare Mandarine einen Hauch von fruchtiger Süße verleiht, und kommt dann mit Jasmin und Tuberose sehr schnell zur Sache.
Innerhalb weniger Minuten hat sich das gesamte Blütenbouquet entfaltet und verströmt ein elegantes, ein wenig altmodisches Flair, das bei aller Präsenz doch eine recht gemäßigte Sillage aufweist und damit sicherlich auch an Orten gehobener gesellschaftlicher Zusammenkunft – beispielsweise in jener Operette, die als Namensgeberin diente – niemanden belästigen oder gar erschlagen würde.
Viele Stunden lang behält "Enlèvement au Sérail" ohne große Veränderung seinen Blütencharakter, bis eine warm-würzige Basis erreicht wird, die auf meiner Haut merkwürdigerweise ein wenig an den Duft von Selbstbräuner erinnert.
Francis Kurkdjian hat sich hier einer großen Herausforderung gestellt und einen Duft kreiert, der an den Zauber lang vergangener Zeiten anknüpft und ihn zu neuem und vielleicht zeitgemäßerem Leben erwecken sollte.
Tatsächlich erinnert "Enlèvement au Sérail" deutlich an die mehr oder weniger opulenten Blütenchypres aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, läßt jedoch jene schillernde Komplexität und Tiefe vermissen, wie sie etwa die Nachkriegskreationen der Häuser Guerlain, Balmain und Chanel aufweisen und die heute wie zum Zeitpunkt ihrer Lancierung faszinieren.
Mir fehlen Akzente, die den Duft unverwechselbar ins Gedächtnis einprägen, feine Spitzen, Ecken und Kanten, die eine Ahnung von Charakter, von Leidenschaft vermittelt hätten – so bleibt "Enlèvement au Sérail" seltsam ausdruckslos und stärker zurückgenommen, als eine Anpassung an heutige Duftvorlieben es erfordert hätte.
Herr Kurkdjian hat wundervolle, facettenreiche, sehr persönlichkeitsstarke Düfte geschaffen, die als (durchaus bezahlbare) Meisterwerke gelten können – an die Spitze seiner Schöpfungen würde ich "Enlèvement au Sérail" eher nicht setzen.