Luca Turin hat auch nicht immer (aber sehr oft) recht: eine Rezension und mehr...
Selbstverständlich ist bei dieser Überschrift Ironie in doppelter Wendung vorauszusetzen. Und doch: Luca Turins und Tania Sanchez' "Kommentare" (ich bleibe mal im Terminus unserer Website) sind unterhaltsam, frech, oft treffend, humorvoll, gelegentlich auch sarkastisch, spitz, vielleicht verletzend. ich möchte nicht zu den von Turin bloßgestellten Großmeistern der Zunft gehören, man denke etwa an den selbsternannten König der Düfte, dessen Kreationen ich oft viel abgewinnen kann, der aber in der neuesten Ausgabe zumeist miserabel wegkommt. Auch der Schöpfer von Black Afghano erhält bei allen neueren Kreationen die Höchststrafe.
Immerhin gibt es im neuesten Werk einige signifikante Unterschiede zum älteren Band. In Band 1 standen Klassiker im Mittelpunkt, deren Reformulierung diskutiert wurde und die dann in den Kontext der Gesamt-Duftlandschaft und in den Kontext ihrer eigenen Geschichte eingeordnet wurden. Mitsouko ist so ein Beispiel. Neuere Düfte (z.B. Nicolai New York) wurden an diesen (hier: Guerlain) gemessen oder zu ihnen in Beziehung gesetzt. Turin verrät auch in seinem neuesten Band, dass er bevorzugt Caron pour un Homme und Mitsouko trage. Eine gute Wahl, wie ich meine. Klassikern gilt also offenbar häufig seine besondere Liebe. insgesamt erschienen mir seine Bewertungen bisher allermeist nachvollziehbar, natürlich nicht im Detail und bei jedem Duft, aber doch im Großen und Ganzen. Der Vorwurf, er teste die Düfte nicht auf der Haut, sondern überwiegend auf Duftstreifen, ist im Kontext eines synoptischen Vergleichs nicht nachvollziehbar. Düfte auf der Haut zu testen führt stets von Vornherein zu einem subjektiven Eindruck. Wer einen wenigstens ansatzweise intersubjektiven Kern herausarbeiten möchte (ich formuliere bewusst vorsichtig), der ist wohl gezwungen, auf neutraler Unterlage zu testen. Und dies ist die Haut eines Individuums natürlich nicht. Ich teste ja Düfte auch nicht auf der Haut meiner Katze oder dem Fell des Nachbarhundes. Ein Hauttest kann dennoch sinnvoll sein: wenn ich einen Duft für MICH suche. Darum ging es Turin und Sanchez aber sicher nicht. Sie waren und sind unausgesprochen auf der Suche nach dem großen Vergleichsmaßstab, der als Folie hinter einem solchen Riesenprojekt steht. Alles in allem führte das natürlich nicht zwingend zu weniger subjektiven Urteilen, aber es war doch beeindruckend, was die beiden Experten und Autoren seinerzeit mit dem Mammutwerk, "Perfumes. the A-Z guide" vorgelegt hatten. Man mag Sanchez und Turin nicht in allem folgen, aber es war sicherlich öfters anregend, sich mit ihren Perspektiven auseinanderzusetzen. Auch durch Reibung im Diskurs entsteht eine tragfähige Position.
Das neue Werk, "Perfumes: The Guide 2018", ist da nicht so leicht zu durchdringen. Was geblieben ist, sind die launigen Kommentare, mit spitzer Feder verfasst, die Fülle an Material, diesmal bei einem anderen Verlag aus dem Baltikum verlegt. Auch in diesem Falle ist natürlich (!) nicht alles nachvollziehbar. Auffällig ist aber hier vor allem, dass Klassiker weitgehend fehlen (sieht man einmal von einer längeren Rezension zu Green Water ab), dafür die Nische bis in ihre Verästelungen abgebildet wurde / werden sollte. Das Vorhaben, hier Vollständigkeit erreichen zu wollen, ist natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Betrachtet man etwa die weit mehr als 100.000 Parfums, die inzwischen auf Parfumo gelistet sind, dann wird schnell klar, wie groß der Anteil der sogenannten Nische an dieser Fülle ist. Insofern ist allein die Auswahl von Nischendüften, die sich auf ein Buch mit einigen hundert Seiten beschränken muss, eine sehr subjektive. Erfreulicherweise finden sich etwa Düfte von Annette Neuffer, Kerosene oder Schwarzlose, andererseits fehlen etliche Marken, die sich um hochwertige Ware im mittleren Preissegment bemühen. Mainstreamdüfte wurden offenbar beispielhaft ausgewählt. Nach welchen Kriterien dies geschah, kann nur gemutmaßt werden. Ein Schelm, wer dabei an die Lobbymacht der Branche denkt.
Die Auswahl, die sich nun letztlich im neuesten Band findet, ist eigenwillig. Ähnliches gilt auch für die Auswahl innerhalb des jeweiligen Markenspektrums. Während Düfte besprochen werden, die man nicht erwarten konnte (limitierte Editionen), werden andere übergangen, die zum klassischen Portfolio einer Marke gehören. Das allerdings sind zugegebenermaßen Einwände, die sich leicht mit den persönlichen Neigungen der Autoren begründen und damit entkräften lassen. Schließlich bleibt es jedem Kritiker überlassen, zu welchem Werk er sich äußern möchte.
Wenigstens ebenso schwer nachvollziehbar erscheinen mir diesmal jedoch die Bewertungsmaßstäbe. War in Band 1 ein roter Faden erkennbar, der sich an Klassikern orientierte (z.B. div. Guerlains), originelle Ideen honorierte (z.B. Breath of God), singuläre Düfte lobte (z.B. Timbuktu) und eigenwillige Konzepte der Masse vorzog (nicht immer, aber doch häufig), ist ein solches grundlegendes Konzept im neuen Band für mich bisher kaum zu finden. Lob für Animalisches steht neben Schelte für Tierisches. Blass Zitrisches wird gelobt, während andere Hesperidien-Düfte mit einem oder zwei Sternen abgefunden werden. Folgt man Turins Argumentation in der Einleitung, seien die o.g. Maßstäbe (beauty, ideas, novelty, skill) weiterhin die leitenden Ideen. Mag sein. Dass Klassiker keine besondere Rolle mehr spielen konnten (deren Einordnung sollte ja der erste Band leisten), ist nachvollziehbar. In Band 2 geht es um die Abbildung der neuesten Entwicklungen: Mainstream vs. Nische, den Siegeszug des Oud, die Bedeutung von Aromachemie, Diversifizierung, Sinn und Unsinn von Sillage, neue Kreative, Globalisierung der Parfümindustrie. All das ergibt einen spannenden historischen Abriss, hilft aber noch nicht beim Verständnis der Bewertungsmaßstäbe.
Hier schließt sich die eigentliche Intention dieses Blogs an. Es ging mir nicht allein um die Rezension eines Werkes, über das hier garantiert wieder viele disktutieren werden (Begeisterung wird neben Ablehnung stehen), sondern auch um die Frage, ob sich andere bereits mit diesem Werk auseinandergesetzt (s. auch Forum) und einen roten Faden erkannt haben: wenn es denn einen gibt. Gäbe es keinen, fehlte mir ein Maßstab für die Beurteilung insgesamt. Und dann wäre die Kritik resp. das Lob beider Autoren kaum mehr wert als die Meinung des ahnungslosen Käufers im Kaufhaus, über den sich viele von uns erhaben fühlen. Das aber könnte ich kaum akzeptieren.
Update (September 2018): Ich folge der Argumentation von DasguteLeben (Danke!) und beginne nach diversen Tests mehr und mehr die Maßstäbe zu verstehen. Im Zentrum stehen Autodidakten (Bogue, Tauer, Annette Neuffer, Zoologist, als Profi-Outlaws: The Zoo, Parfum d'Empire) mit neuen, originellen Ideen, jenseits des Mainstream, jenseits der saturierten, oft viel zu teuren Nischenmarken (Roja, Xerjoff, Orto Parisi), jenseits der etablierten Nische, die mehr und mehr Originalität durch Output ersetzt (L'Artisan, Serge Lutens, Kurkdjian, man könnte ergänzen Marly, Widian, SoOud u.v.m.). Folgt man dieser Spur, sind die 4- und 5-Sterne-Bewertungen oft sehr gut nachvollziehbar. Nicht selten geht einem bei Lektüre und gleichzeitigem Test ein Licht auf. Danke LT und TS: Ihr habt doch (sehr oft) recht!