Beim Therapeuten (Einzelsitzung)

Heute fühle ich mich...bereichert. Darf ich das so sagen? "Gut" lassen Sie von der Zunft der Psychologen ja immer nicht gelten. Nein, auf das Pendel möchte ich heute nicht achten. Meine Atmung ist gleichmäßig und ruhig. Gestern Abend fiel mir eine kleine Glas-Testabfüllung auf den Küchenboden, als ich eine Duftpost verpackte. Das kleine Fläschchen zerbrach auf dem Steinboden. Da war zunächst Wut, dann Enttäuschung und Trauer. Doch dann erinnerte ich mich an Ihre Worte, sagte mir "Aha, so ist das also, hmmhmm" und hielt inne. Sehen Sie, ich lerne! Ganz achtsam wurde ich. Ich hörte die Stille der Nacht, etwas Rauschen vom Verkehr, der durch die Stadt pulsierte, ich spürte den leichten kühlen Windhauch, der durch die Küchentüre in Richtung Wohnzimmerfenster zog, ich betrachtete das kleine Testerchen. Ganz interessant sah dieser Bruch aus, keine Splitter, ein asymmetrischer, gezackter Bruch. Ich wollte das Ereignis fotografieren, hochladen, doch mir fiel ein, dass Abfüllungen in nicht beschrifteten Röhrchen abgelehnt werden. Also warf ich es weg. Da war für einen kurzen Moment wieder Enttäuschung.

Ich begann zu beobachten, wie das Parfum über das Steinrelief meanderte, wie es langsam begann weniger zu werden, sich aufzulösen, in den Raum zu diffundieren. Ich roch seine gewaltige Aura. So hatte ich den Duft noch nie wahrgenommen. Ganz gedankenverloren nahm ich einen Lappen und wischte das kleine Kunstwerk vom Boden, roch seine Facetten am Wischlappen, wusch diesen im Spülwasser aus, welches noch vom Abwasch des Abendessens in der Spüle stand. Mit hochgezogener Augenbraue begann ich die Komposition im Becken zu entschlüsseln. Wie verhält sich dieser Duft in Kombination mit Wurst-, Käse-, Tomaten- und Gurkenresten sowie dem Zitrone-Aloe Vera Spülmittel? Finden Sie das...pathologisch? Dann begab ich mich ins Wohnzimmer, um seine Sillage zu beurteilen, blieb lange auf, im Dienste der Evaluation seiner Haltbarkeit auf Stein, im Lappen, im Spülwasser. Dabei schlief ich auf dem Sofa ein.

[...]

Ach ja, sie spielen jetzt auf die Selbsthilfegruppe für Parfümblogsüchtige an, über die wir letzte Woche sprachen. Eine gute Freundin im Forum wies mich allerdings darauf hin, dass eine Gruppentherapie mit weit über 2000 Patienten wohl eher weniger effektiv sei. Da musste ich ihr allerdings recht geben.